Die Rotunda war ein altes, frisch saniertes Gebäude, das jetzt ein angesagtes Speiselokal beherbergte, ein Symbol des neuen Glasgow.
Auf der anderen Seite des Clyde befanden sich die heruntergekommenen Gegenden, in denen die Industrie vor sich hin krepierte. Ich dachte an die in hell erleuchteten Räumen Trinkenden und Speisenden und den Toten, verlassen in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Wassers, dort, wohin das Licht nicht reichte. Vielleicht war es meiner Stimmung geschuldet, aber die Gegenüberstellung dieser beiden Bilder erschien mir wie ein Wappen unserer Zeit. Motto: Lebet in Saus und Braus und kümmert euch einen Scheiß um die anderen.
»Laut vorläufiger Einschätzung war er süchtig. Bob hat den Bericht. Anscheinend hat er sich kürzlich erst den Arm gebrochen. Und so wie’s aussieht, haben sie ihm auch ordentlich zugesetzt, bevor er getötet wurde. Sämtliche Finger sind gebrochen.«
»Ich glaube, meine Eier sind gerade schlecht geworden«, sagte ich. »Kompliment an den Koch. Wenn du ihn nur bitten würdest, das nächste Mal beim Essen die Klappe zu halten.«
Wir räumten die traurigen Reste der Mahlzeit auf und Brian bestand darauf, dass wir abspülten.
»Die Bude hier ist so schon deprimierend genug«, sagte er. »Wenn noch ein Berg schmutziges Geschirr dazukommt, steckst du demnächst den Kopf in den Ofen.«
»Ist Elektro.«
»Dann brutzelst du dich eben in der Pfanne zu Tode.«
»Hab gar nicht gemerkt, wie spät es ist«, sagte ich, als ich das Küchenhandtuch aufhängte. Bald würde ich es waschen müssen. Allmählich machte ich das nasse Geschirr damit schmutziger. »Ich bin später aufgestanden als geplant. Jan müsste bald hier sein.«
»Jan kommt?«
»Ich dachte, wir gehen ins Lock und essen was zu Mittag. Dann bringt sie mich zum Bahnhof.«
»Zu welchem?«
»Central Station.«
Brian hob abwehrend die Hand.
»Schweig, das genügt«, sagte er. Er nahm die Hand ans Kinn wie Sherlock auf einem alten Druck und zeigte mit dem Finger auf mich. »Graithnock.«
»Mein Gott, du bist gut«, sagte ich. »Da hat Scott gewohnt.«
»Rückkehr zum Schauplatz des Verbrechens. Nur dass es kein Verbrechen gibt.« Er war freundlich zu meinem Schweigen, erfüllte es mit Worten. »Dann kommt Jan also?«
»So war’s gedacht. Ein Abschiedsessen, bevor ich mich ins Hinterland begebe.«
»Wie soll’s mit euch beiden weitergehen?«
»Ach, sie ist toll«, sagte ich. »Was für eine fantastische Frau.«
»Danach hab ich nicht gefragt.«
»Brian. Ich stecke so tief in der Scheiße, dass ich damit ganz Russland düngen könnte. Woher soll ich wissen, was später wird? Ich weiß, dass ich sie liebe. Was auch immer das bedeutet. Aber was ich damit anfange, muss ich erst noch herausfinden. Leg deine Frage auf Eis.«
»Jedenfalls hab ich ein Problem«, sagte er, »wenn Jan kommt. Ich wollte dir meinen Wagen geben.«
»Du brauchst ihn doch.«
»Ich nehme den von Morag. Sie kann sowieso nicht mehr fahren, so weit wie sie ist. Sie würde vom Rücksitz aus lenken müssen.«
Morag war im achten Monat schwanger. Es war ihr Zweites. Stephanie war fünfzehn Monate alt. Trödeln war nicht ihr Ding.
»Sicher?«
»Ich werde mir vorkommen wie in einem Autoskooter, aber schon okay.«
»Hey, danke. Das hilft sehr. Bist ja doch nicht so unausstehlich, wie ich dachte.«
»Hab eine Schwäche für Verrückte. Du hättest Ena nicht den Wagen überlassen sollen.«
»Sie hat ihn dringender gebraucht als ich. Wegen der Kinder.«
»Aber wie komme ich jetzt nach Hause? Ich hatte gehofft, du könntest mich fahren.«
»Mach ich.«
»Aber du triffst dich doch mit Jan.«
»Dann kommst du eben mit.«
»Oh nein, das ist zu intim.«
»Brian, wir gehen mittagessen, nicht ins Kino in die letzte Reihe. Wir sind inzwischen wohlerzogene Erwachsene, mein Kleiner. Ich denke, das kriegen wir hin.«
Während wir auf Jan warteten, fragte mich Brian nach Ena und den Kindern. Ich hatte sie am Vortag gesehen, am Sonntag, dem Tag des Kindes, dem Sabbat der Agnostiker, an dem überall in der westlichen Welt abtrünnige Väter flüchtige Blicke auf das Einzige werfen, woran sie in ihrer Ehe noch glauben. Sie bringen Aufnahmeanträge für Sportvereine, schlecht sitzende Kleidung und Bücher mit, die niemals gelesen werden.
Ich war einer von ihnen. Die Vorstellung deprimierte mich. Wie würde das in ein paar Jahren aussehen? Wenn ich nicht an einem Samstag starb, verloren sie einen Fremden. Durch diese Überlegungen versehrt, wandte ich mich ab. Ich war auf einen anderen schlimmen Gedanken gestoßen. Ein zu großer Teil meines geistigen Mobiliars schien heutzutage aus Verzweiflung gezimmert.
Als Jan hupte, war ich froh. Ich nahm meine Reisetasche für voraussichtlich eine Woche, und Brian und ich traten hinaus ins grelle Sonnenlicht. Brian winkte Jan, hob die Hände und nickte in meine Richtung. Übersetzt hieß das: »Er ist schuld.« Sie lächelte. Ihr Lächeln war eine wunderschöne Absolution.
Im Wagen küssten wir uns, Jan und ich, nichts Heißes, vergewisserten uns nur kurz, ob das Kontrolllämpchen noch brannte. Nachdem sie angefahren war, sah sie in den Rückspiegel.
»Er fährt uns hinterher«, sagte ich. »Er kommt mit.«
»Meinst du, dass du Unterstützung brauchst?«
»Brian borgt mir seinen Wagen. Ich muss ihn nach Hause bringen. Was hätte ich sonst…«
»Jack.« Sie verstand es, einen mit dem eigenen Namen zu streicheln. »War nur Spaß, okay? Hauptsache wir haben überhaupt ein bisschen Zeit zum Reden.«
Bei ihrer Stimme und ihrem Duft regten sich Hormone in mir, wurden unruhig und dachten: Okay, vielleicht werden wir hier doch noch gebraucht.
Immer wenn man glaubt, man sei schon tot, kitzelt einen das Leben an den Füßen.
WO KOMMEN SIE HER, DIESE ZEITEN? Vor Personen haben sie keinen Respekt. Du hast entschieden, dass ein Tag einfach nur schlimm ist. Ihn in den tristesten Grautönen gemalt, und plötzlich blendet er dich mit Farben, von denen du gar nicht wusstest, dass es sie gibt. Und lockt dich in einen Hinterhalt aus Freude. So war das im Lock 27.
Wir aßen draußen an Holztischen. Ein Ort, der Jan und mir schon ein paar Mal etwas bedeutet hatte, träge Getränke und lange Gespräche, die über gewundene Umwege ins Bett führten, zwischendurch pflückten wir hier und da in unseren unterschiedlichen Vergangenheiten ein Blümchen, und ihr Mund verwandelte sich in einen unglaublichen Organismus, so exotisch wie eine Seeanemone. Ich verliebte mich vorübergehend unsterblich in ihr linkes Ohrläppchen. Solche Zeiten.
Heute gab es die Orchesterfassung von allem zusammen. Die Einzelheiten, die diese Wirkung erzielten, schienen für sich genommen gar nicht so überwältigend. Aber die Noten zu Solveigs Song sehen auch nicht nach viel aus, zumindest nicht in meinen Augen. (Ein Lehrer in der Schule hat sie mir einmal gezeigt.) Gehört, lässt die Musik einen schmelzen.
Jan und Brian teilten sich eine Flasche Weißwein. Ich blieb beim Perrier, weil ich noch eine gewisse Strecke fahren wollte. Wir aßen. Redeten. Das war’s.
Aber da draußen war der Mai, legte Spuren aus Duft in die Luft wie Geheimnisse, denen man auf den Grund gehen möchte, bis sie einen unter sich begraben. Das Sonnenlicht prahlte mit dem Kanal–schaut mal, was ich mit Wasser anstellen kann – und ein junges Pärchen mit Kind ging am Ufer auf und ab, Leute redeten und lachten, man hatte das Gefühl, gar keiner so schlechten Spezies anzugehören, und ich dachte, was für ein tolles Spiel wir hier spielten. Am liebsten hätte ich es eingerahmt. So kann es bleiben.
Nachdem mich Jan und Brian während des Essens feinfühlig wegen meiner unzureichenden Begabung im Alleineleben aufgezogen hatten (Scott wurde nicht erwähnt), bestand Brian darauf zu bezahlen und sich die Beine am Kanal zu vertreten.
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