Vor Gericht sind einige dieser Spitzel als Zeugen aufgetreten, aber längst nicht alle, die sich rund um den NSU bewegt hatten. Einige V-Männer hielt das Gericht für die strafrechtliche Aufklärung nicht für wichtig genug, so auch den Neonazi mit dem Decknamen »Primus«, der jahrelang in Zwickau gelebt hatte und nachweislich den Angeklagten André Eminger kannte. Es gibt Zeugen, die bekunden, Uwe Mundlos habe nach dem Untertauchen für eine Baufirma dieses V-Mannes gearbeitet – und Beate Zschäpe womöglich in einem von dessen Läden. Erwiesen ist das nicht, vom Gericht aufgeklärt allerdings auch nicht. Die Richter hielten es für die Schuldfrage für irrelevant.
Viele Vertreter der Nebenkläger haben im Prozess immer wieder versucht, mehr Licht in die Aktionen der Behörden und das Treiben der V-Leute zu bringen. Manchmal führte dies zu ungewöhnlichen Koalitionen, denn auch einige Verteidiger drängten zur Aufklärung der Rolle des Staates – um ihre Mandanten zu entlasten. Aus Sicht der Bundesanwaltschaft war die Aufklärung der Staatsverwicklung jedoch die Aufgabe der Untersuchungsausschüsse und nicht des Strafverfahrens in München. Bundesanwalt Herbert Diemer hat solche Anträge fast immer blockiert. Und auch die rechtsradikale Gesinnung von Zeugen tat für ihn nicht wirklich etwas zur Sache. Legendär ist sein Satz: »Wir sind nicht das Jüngste Gericht.«
Ein wunder Punkt bei der Aufklärung ist der Mord an Halit Yozgat in Kassel. Als der 21-Jährige im April 2006 in seinem Internetcafé erschossen wurde, waren mehrere Kunden in dem Laden. Einer von ihnen war Andreas Temme, Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Er geriet damals unter Mordverdacht, weil er sich nicht als Zeuge gemeldet hatte. Die Ermittlungen gegen ihn wurden jedoch eingestellt. Nach dem Auffliegen des NSU wurde er erneut überprüft. Temme beteuerte stets, vom Mord nichts mitbekommen und auch die Leiche in dem engen Laden nicht gesehen zu haben. Das klingt selbst für einige Polizisten, die in diesem Fall ermittelten, unglaubhaft. Manche Kritiker der Ermittlungen haben sogar über eine Komplizenschaft des Beamten mit den Tätern spekuliert oder suggeriert, er sei selbst der Mörder gewesen. Temme wurde gleich sechs Mal im NSU-Prozess gehört. Am Ende glaubte ihm das Gericht. Die Familie Yozgat sieht es anders und hat das vor Gericht wiederholt geäußert. Und der detaillierte Nachbau des Internetcafés durch ein britisches Expertenteam der Gruppe »Forensic Architecture« auf der Documenta in Kassel hat ergeben, dass Temme den Schuss gehört und die Leiche gesehen haben muss – bis auf ein sehr unwahrscheinliches Zeitfenster von circa 40 Sekunden, in dem er schon weg gewesen sein könnte und die Mörder noch nicht da. Dass er aber Kontakte zum NSU gehabt hat, das konnten auch diese Experten nicht belegen.
Rund um den NSU ranken noch viele Gerüchte. So sollen Zschäpe, Mundlos oder Böhnhardt selbst V-Leute des Geheimdiensts gewesen sein – Belege dafür existieren nicht. Mundlos und Böhnhardt sollen sich nicht selbst im Wohnmobil getötet haben, sondern von einem geheimnisvollen Dritten exekutiert worden sein – auch dafür fehlen Belege. Erleichtert werden die Spekulationen aber dadurch, dass die Behörden bei der Spurensicherung geschlampt haben. So ist das Wohnmobil, in dem die Leichen von Mundlos und Böhnhardt gefunden wurden, frühzeitig vom Tatort weggeschleppt und erst danach durchsucht worden. Dadurch könnten die Spuren im Inneren des Wohnmobils verändert worden sein.
Verschwörungstheorien ranken sich auch um den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn getötet wurde. Als Schützen gelten Mundlos und Böhnhardt, das Blut von Kiesewetter wurde an einer Hose von Mundlos im Katzenzimmer in Zwickau gefunden. Auch Zschäpe hat erklärt, ihre Gefährten seien die Täter gewesen. Doch noch immer wird von der Verwicklung eines amerikanischen Geheimdienstes geraunt. Das lässt sich bisher allerdings in keiner Weise belegen. Der einzige Bezugspunkt zum NSU ist, dass die getötete Polizistin wie Mundlos und Böhnhardt aus Thüringen stammte. Belastbare Hinweise, dass sie sich kannten, gibt es nicht.
Manchmal führen spektakuläre neue Spuren nur in die Irre. So wurde im Herbst 2016 plötzlich eine DNA-Spur entdeckt, die Uwe Böhnhardt mit dem Mord an der neunjährigen Peggy aus Oberfranken in Verbindung brachte. Das Kind war im Jahr 2001 spurlos verschwunden, seine Überreste im Sommer 2016 gefunden worden. Direkt am Fundort der Leiche wurde DNA von Uwe Böhnhardt gefunden. Erst Monate später stellte sich heraus, dass die Thüringer Polizei das identische Gerät am Fundort von Peggy und bei der Bergung der Leiche von Böhnhardt eingesetzt – und offenbar DNA übertragen hatte. Es war nur einer von vielen Fehlern, die den Behörden unterliefen – so wie bei der Phantomspur in Heilbronn, als verunreinigte Wattestäbchen die Polizei nach dem Mord an Michèle Kiesewetter auf eine falsche Fährte führten.
Auch nach dem Urteil im NSU-Prozess quält viele die Unsicherheit, ob entscheidende Zusammenhänge noch gar nicht erkannt worden sind. So ist die Herkunft der vielen Waffen des NSU immer noch weitgehend ungeklärt. Und auch die Frage, ob es Komplizen, Mitwisser oder Mittäter gab, die bisher nicht bekannt sind, ist unbeantwortet. Es bleibt nach fünf Jahren NSU-Prozess die Erkenntnis: Auch juristische Wahrheit kann immer nur eine Annäherung an die Wahrheit sein.
Das Gericht jedoch hat die Strafverfolgung weiterer Verdächtiger durch sein Urteil zumindest erschwert. Denn es hat André Eminger geglaubt, dem engsten Vertrauten des NSU, wonach er trotz seiner Nähe nicht wusste, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Morde begingen. Deswegen wurde er auch von der Beihilfe zum versuchten Mord freigesprochen. Nun ist aber auch den anderen Beschuldigten, die nah am NSU dran waren, aber nicht so nah wie Eminger, nur noch schwer der Prozess zu machen. Gerade bei Emingers Frau Susann, der ehemals besten Freundin von Beate Zschäpe, hatten sich die Ermittler zuvor noch einen Erfolg versprochen.
Gerade um die Transparenz in diesem Mammut-Verfahren zu gewährleisten, sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass der Prozess per Video oder mit Tonband aufgenommen oder zumindest mitstenografiert wird – so wie das auch bei Debatten im Bundestag geschieht, die man dann auf der Homepage des Bundestags nachlesen kann. Oder wie am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, in dem zusätzlich zum Protokollanten sogar acht Kameras das Prozessgeschehen aufnehmen. Doch eine solche Dokumentation über den NSU-Prozess existiert nicht. Es gibt kein offizielles Protokoll dieses Prozesses, ein Umstand, der selbst vielen interessierten Beobachtern des Verfahrens nicht bewusst war und immer wieder ungläubiges Kopfschütteln erregte.
Es ist in Deutschland – ganz anders als in den USA – bisher verboten, Gerichtsverhandlungen in Ton oder Film aufzunehmen. Und der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat gleich zu Beginn einen entsprechenden Antrag der Verteidigung abgelehnt – damit, wie er sagte, die Zeugen nicht beeinflusst werden und frei aussagen könnten.
Im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts München saßen zwar Protokollanten, aber sie schrieben nur auf, ob Zeugen erschienen und Angaben zur Sache machten. Was die Zeugen aussagten, lässt sich offiziell nirgendwo nachlesen – deswegen kam es bei der Bewertung von Zeugenaussagen schon während des Prozesses wiederholt zu Diskussionen. Verteidiger, Ankläger, auch die Richter schrieben zwar eifrig für sich mit, aber alle nur das, was für ihre eigenen Bedürfnisse wichtig erschien. Und jeder erinnerte sich anders. Schon im Auschwitz-Prozess, der 1963 begann, wurde beklagt, dass es kein offizielles Protokoll gab. Das Gericht selbst hat dann »zur Stützung des Gedächtnisses« Tonaufnahmen fertigen lassen. Zunächst sollten sie vernichtet werden, erst auf Protest jüdischer KZ-Opfer wurden sie aufbewahrt und später für die Wissenschaft freigegeben, mittlerweile hat sie die UNESCO als Quelle von welthistorischem Rang anerkannt. Aus dieser Erfahrung haben die deutschen Gerichte jedoch bisher kaum Lehren gezogen.
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