Der Prozess hat vorgeführt, wie Rechtsradikale immer noch verniedlicht werden – wie schon seit den 1990er Jahren, als der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf sagte, die Menschen in Sachsen seien »immun gegen Rechtsextremismus«. In einer paternalistischen Geste taten viele West-Politiker damals das offen zur Schau getragene rechtsradikale Gedankengut in den neuen Ländern als Kinderei ab, die sich schon auswachsen werde. Bis heute verharmlost die Gesellschaft rechte Übergriffe als Dumme-Jungs-Streiche und redet rassistische Morde als Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten klein. Erst wenn, wie in Dresden, der Rassismus die Touristenzahlen dezimiert, wird die antidemokratische Haltung weiter Kreise der Bevölkerung als Problem wahrgenommen.
Im Prozess konnte man sehen, wie die Helfer und Sympathisanten des NSU noch immer eine verschworene Gemeinschaft bilden. Es traten alte Freunde von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vor Gericht auf, die mit den dreien über Gewalt geredet, fremdenfeindliche Straftaten vorbereitet und begangen, ihnen beim Untertauchen geholfen hatten. Doch vor Gericht konnten sie sich angeblich an nichts mehr erinnern.
Im Prozess wurde klar, dass all die Menschen im Umfeld des NSU – die Nachbarn, die Freundinnen, der Hausmeister – nichts bemerkt haben wollten vom Treiben der Bande, aber auch von all dem rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Gedankengut, das in Ostdeutschland nach der Wende verbreitet und offen zur Schau gestellt wurde. Alles sei ganz normal gewesen, berichteten die Zeugen vor Gericht. Es war für sie normal, dass der Ehemann auf seinem Bauch »Skinhead« tätowiert hat. Es war für sie normal, dass der Mann der Nachbarin auf seinem Facebook-Account das Gedicht stehen hatte: »Der Ali hat Kohle, der Hassan hat Drogen, wir Deutschen zahlen und werden betrogen.« Nein, deswegen seien sie doch nicht rechtsradikal, sagte die Nachbarin. Auch Beate Zschäpe sei »ganz normal« gewesen. »So wie alle.« Die vietnamesische Schwägerin eines Bewohners traute sich dann irgendwann nicht mehr ins Treppenhaus, das an der Wohnung von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos vorbeiführte.
Vor Gericht wurde nicht nur der Werdegang der Angeklagten seziert, da wurden die Biographien von Unternehmern aus Chemnitz, von Personalsachbearbeitern aus München, Baggerführern aus Jena, Handwerkern aus Zwickau erhellt, vermeintlich unbescholtene Bürger – bis hinter der wohlanständigen Fassade ihre braune Vergangenheit und ihre Gegenwart als Demokratie-Verächter hervorblickten. Man sah, aus welchem Reservoir sich Gruppen wie Pegida und Parteien wie die rechte AfD ihre Anhänger schöpfen.
Man konnte aber auch erkennen, dass es Menschen gibt, die sich trotz ihrer Verstrickung aus der Szene lösten wie der Angeklagte Carsten Schultze, der gestanden hat, dem NSU die Tatwaffe für neun Morde überbracht zu haben, aber dann mit der rechten Szene brach, sein Coming-Out hatte und ein neues Leben anfing: Er studierte Sozialpädagogik und arbeitete in Düsseldorf bei der Aidshilfe. Vor Gericht würgte er Stück für Stück seiner Erinnerungen heraus und belastete sich selbst schwer. Als ihm die Familie eines Getöteten im Gerichtssaal vergab, brach er in Tränen aus.
In diesem Prozess schieben sich verschiedene Schichten übereinander – all die Fehler, die in den Jahren nach der Wiedervereinigung gemacht worden sind. Die Einsamkeit der Jugendlichen, deren Eltern mit der Wende so viel zu tun hatten, dass sie keine Zeit mehr hatten, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die Kinder, die dann gegen die Eltern revoltierten – mit der größtmöglichen Provokation, dem Bekenntnis zum Rechtsradikalismus. Vieles kam zusammen: die bröckelnden Autoritäten der DDR, deren frühere Volkspolizisten von den Jungen nur noch mit Spott bedacht wurden. Die West-Importe, die die Behörden in den neuen Bundesländern aufbauen sollten und doch oft nur in den Osten weggelobt worden waren. Die Verunsicherung in den Behörden, was denn nun noch galt und was nicht mehr. Die Nachsicht der Justiz gegenüber den jungen Leuten, die sich doch erst finden mussten in der neuen Welt und die doch klare Ansagen gebraucht hätten. Und all jene Lokalpolitiker, die Rechtsradikale nie bei sich im Ort entdeckten, sondern höchstens im Nachbardorf. Aber dort ging es sie ja nichts an.
Die gefriergetrocknete Welt des Gerichts
Mit großer Präzision, aber mit einem Mindestmaß an Emotion leuchtete das Gericht in München einen Abgrund an Hass, Gewalt und Versagen aus. Die Welt des Münchner Gerichtssaals war eine sehr eigene Welt. Eine Welt wie gefriergetrocknet, in der die Gefühle der Zeugen, der Opfer, der Angehörigen, der Angeklagten durch den Richter sorgfältig extrahiert und dann juristisch vakuumverpackt wurden, so dass nichts mehr stören konnte bei der Suche nach den Fakten. Gefühle waren im Gerichtssaal A101 nicht vorgesehen, sie wurden kurz abgefragt, notiert, dann ins Regal gelegt, zu den anderen Akten. Dieser Prozess verwandelte Hass in Schweigen, Wut in Fragen, Verzweiflung in Beweisanträge. Ein Raum der Regeln. Aseptisch. Wie unter dem grellen Licht über einem Operationstisch wurde im fensterlosen Gerichtssaal eine monströse Reihe von Verbrechen seziert, unter denen Opfer und Hinterbliebene noch immer leiden. Und so sehr die Strafprozessordnung die Regeln vorgibt, so sehr das Gericht versuchte, die Gefühle zu bannen – sie kamen doch beklemmend nahe.
»Reden Sie«, beschwor die Mutter des getöteten Halit Yozgat die Angeklagte. Eindringlich sah die Frau mit dem blauen Kopftuch Beate Zschäpe an. Seit dem Tag, als ihr Sohn im April 2006 getötet wurde, könne sie keine Nacht mehr schlafen. »Sie sind auch eine Dame«, sagte die Mutter zu Zschäpe. »Denken Sie daran, dass ich nicht schlafen kann.« Zschäpe schaute die Frau nicht an. Erst in ihrem Schlusswort wurde klar, dass die Worte der Mutter sie berührt hatten. Sie sei »ein mitfühlender Mensch«, sagte Zschäpe im Juli 2018 zu Mutter Yozgat. Einmal stürzte der Vater von Halit Yozgat nach vorn, warf sich auf den Boden des Gerichtssaals, direkt vor Zschäpe, und zeigte, wie er sein »Lämmchen« gefunden hat. Zschäpe erschrak, senkte den Blick in ihren Laptop. Der Vater am Boden schluchzte auf. Der Sohn, gerade 21, war damals in seinen Armen gestorben.
Es waren Zeugenaussagen wie diese, die für die regelmäßigen Beobachter und Besucher des Prozesses zu den eindringlichsten Ereignissen gehörten. Da gab es die verstörte Witwe eines Opfers, die nicht verstand, was sie noch vor Gericht sagen sollte – nachdem ihr Leben vor 14 Jahren zerstört worden war. Sie herrschte den Richter an, er solle doch Zschäpe fragen, »diese Frau« – sie selbst sei wie eine Verdächtige behandelt worden. Da war der Kollege der getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter, der sich in den Gerichtssaal tastete, weil er seit dem Anschlag des NSU das Gleichgewicht nicht mehr halten kann. Er hatte durch den Schuss der Täter schwerste Kopfverletzungen erlitten, sich dennoch danach durch ein Studium gekämpft, um weiter als Polizist arbeiten zu können – im Innendienst. Jedes Mal, wenn er einen Streifenwagen sehe, so gab er zu Protokoll, bange er nun, ob die Besatzung heil nach Hause kommen werde.
Und da war die junge Frau, die als 19-Jährige kurz vor dem Abitur im Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern in der Kölner Probsteigasse aushalf. Ein Kunde hatte scheinbar eine Christstollendose im Laden vergessen, seit Wochen stand sie unberührt da. Das Mädchen öffnete die Dose. Als die Bombe explodierte, verbrannte sie die Haare der jungen Frau, zerschnitt ihr Gesicht, schweißte ihr die Augen zu und zerfetzte die Trommelfelle. Aber sie überlebte. Und machte noch im gleichen Jahr das Abitur nach. Sie hat dann studiert und ist heute Chirurgin. Auch ihre Geschwister haben studiert, längst sind alle Deutsche geworden. Die Eltern waren vor Jahren aus dem Iran geflohen. Als die junge Chirurgin am 118. Verhandlungstag als Zeugin vor Gericht aussagte, wurde sie gefragt, ob sie nach dem Anschlag daran gedacht habe, Deutschland zu verlassen. Sie antwortete: Ja, kurz. Doch dann habe sie überlegt, dass die Attentäter genau das bewirken wollten. Und sie sagte: »Nein, jetzt erst recht! Ich lasse mich mit Sicherheit nicht aus Deutschland rausjagen.«
Читать дальше