Soheila M. Der Korb war fast vier Wochen bei uns im Laden. Er war die ganze Zeit auf dem Tisch im Aufenthaltsraum. Dort wurden Schnitzel geklopft. Freunde waren dort, alle im Aufenthaltsraum. Meine kleine Tochter hat mir neulich erzählt, dass sie mal alleine dort im Raum war und den Deckel aufmachen wollte. Ich habe immer wieder diese Vorstellung, diese Bombe hätte jederzeit explodieren können, wenn zwanzig, dreißig Berufsschüler und schwangere Frauen im Laden waren. Wir hatten 99 Prozent Deutsche als Kundschaft, obere und Mittelklasse, Ärzte, Rechtsanwälte. Ich persönlich bin davon ausgegangen, Rechtsradikale kommen als Täter nicht infrage. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass Deutsche Deutsche umbringen. Das war ein Fehler, auch von mir.
Götzl Können Sie uns über die Folgen dieses Anschlags berichten?
Soheila M. Am Tag vorher habe ich drei Mal die 110 gewählt, wegen dem Korb. Es wäre meine Aufgabe gewesen, ihn der Polizei zu übergeben. Er gehörte nicht uns. Ich dachte, dem jungen Mann könnte was passiert sein. Dann habe ich wieder aufgehört, weil Kundschaft kam. Wenn ich der Person nicht vertraut hätte, hätte ich die Polizei früher angerufen. Ich mache mir Vorwürfe. Man hat versucht, uns wirtschaftlich zu zerstören, damit wir alles verlieren. Herzlichen Glückwunsch, sie haben es geschafft. Wir haben unser Einkommen verloren, ich habe bewusst den Laden aufgemacht, damit wir nicht abhängig sind von anderen, damit wir unsere Kinder versorgen können. Damit ist unser Leben zerstört. Man hat jede Lebensfreude von mir weggenommen. So was versteht man, wenn man selber Kinder hat. Das ganze Universum lag in diesem Bett im Krankenhaus. Ich habe nur daran gedacht, dass meine Tochter gesund wird. (Sie atmet schwer.)
Später, als ich erfuhr, dass die Rechtsradikalen dahinterstecken, habe ich überlegt, welche ungewöhnlichen Ereignisse bei uns waren. Mir ist eingefallen, dass da eine Dame war, die darauf bestanden hat, bei uns auf die Toilette zu gehen. Später habe ich die Bilder von Frau Zschäpe gesehen, jetzt sehe ich sie auch, eine gewisse Ähnlichkeit könnte sein. Ich habe versucht, unter Hypnose noch mehr Sicherheit zu bekommen. Aber es hat nicht geklappt.
(Als nächste Zeugin folgt Mashid M., die jüngere Schwester der Verletzten.)
Mashid M. Ich kann mich an die Dose erinnern, weil ich sie selbst mal öffnen wollte. Ich hab sie nur leicht aufziehen wollen. Aber meine Eltern sagten: Nein, das darfst du nicht. Der Mann, der den Korb abstellte, war sehr nett. Aber ich war damals vierzehn. Er musste davon ausgehen, dass ich als Kind neugierig war. Ein Gewissen wird nicht vorhanden gewesen sein, wenn man keine Skrupel hat, ein Kind umzubringen.
Götzl Sie sagten, Sie wurden von der Polizei mitgenommen und wie eine Kriminelle behandelt?
Mashid M. Sie haben mich allein in einen Raum gesetzt, ohne psychologische Betreuung. So als ob nichts gewesen wäre, als ob ich oder meine Familie dran schuld gewesen wäre. Ich wurde von meinen Eltern getrennt. Keiner sagte, deine Schwester ist außer Lebensgefahr. Die Vernehmung war komplett distanziert, das Protokoll voller Rechtschreibfehler. Die hab ich dann noch korrigiert. (Die Zeugin wird entlassen. Zschäpes Verteidiger Stahl gibt eine Erklärung ab.)
Verteidiger Stahl Der Zeuge Djawad M. hatte Erinnerung an einen schlanken Mann mit markanten Wangenknochen und längerem gewellten Haar, der den Korb abgestellt hat. Dieser Mann hat keinerlei Ähnlichkeit mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Beide hatten niemals längere Haare. Herr M. hatte Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf Lichtbildern als Täter ausgeschlossen. Beim Täter handelt es sich um eine andere Person. Die Aussagen der Zeugin M. sind nicht belastbar. Die Anklage ist in diesem Punkt widerlegt. Auch die Ersteller der sogenannten Bekenner-DVD sind nicht zwingend die Täter. Es kann sich auch um Trittbrettfahrer handeln. Auch das Material in der Bekenner-DVD war für alle zugänglich, es kann sich um einen Trittbrettfahrer handeln. (In ihrer Einlassung am Tag 249 wird Beate Zschäpe aussagen, dass es Böhnhardt gewesen sei, der den Korb mit der Bombe im Geschäft von Familie M. abgegeben hat, während Mundlos in Sichtweite vor dem Laden wartete.)
26. Juni 2014
Rüdiger Mölle, 42, Sprengstoffsachverständiger des LKA Bayern, der ein Gutachten zum Anschlag in der Kölner Probsteigasse erstellt hat.
Mölle Ich erhielt im April des vergangenen Jahres den Auftrag. (Er kommt nach vorne, um Bilder zu zeigen. Zu sehen ist zunächst der Grundriss des Hauses in der Probstei gasse, dann Fotos, die Beamte nach der Explosion gemacht haben.) Blicken wir zunächst in den Aufenthaltsraum, hier zeigt sich ein Bild der Verwüstung, Querbalken wurden aus der Wand gerissen, einer wurde sogar geknickt. Betrachten wir näher das Sprengzentrum: Hier sehen wir an dem Schreibtisch eine Ausstanzung, da kann man recht sicher davon ausgehen, dass sich hier der Sprengsatz befand. Auf dem rechten Bild sehen wir eine ähnliche Perspektive, wenngleich das die ist, die Frau M. zum Zeitpunkt der Explosion gehabt haben muss.
Im Verkaufsraum war die größte Beschädigung an der Fensterscheibe, die zersplitterte. Betrachten wir die Splitterverteilung. Ein Messingnippel wurde von dem Aufenthaltsraum bis in den übernächsten Hinterhof katapultiert. Kommen wir zum Aufbau der Sprengvorrichtung: Die Stollendose diente als Umverpackung, als Tarnung. Die Gasflasche war eine für Schweißarbeiten verwendete Stahlflasche, in der sich Sauerstoff befindet. Das Ganze ist massiv, wiegt ein bis zwei Kilogramm in leerem Zustand. Als Füllung haben wir Schwarzpulver, dann eine Zündeinleitung, das war eine elektrische. Sie brauchen zwei Kabel, die ins Innere der Flasche führen, die ins Schwarzpulver eintauchen und dann über eine Brücke umgesetzt werden. Wir kommen auf eine Füllmenge von einem bis 1,3 Kilogramm Schwarzpulver. Es ist wahrscheinlich, dass der Konstrukteur noch einen Sicherheitsschalter außen angebracht hat, denn er musste ja die Dose selbst schließen, und das ist sehr gefährlich. Uns hat sich auch die Frage gestellt, warum ist die Sprengvorrichtung nicht sofort im Moment des Deckelanhebens explodiert? Frau M. konnte noch um den Tisch herumgehen. Uns kam eine plausible Erklärung: Es wurde im Asservatenverzeichnis erwähnt, dass sechs Akkus gefunden wurden, wovon fünf bereits entleert waren und einer noch Restspannung aufwies. Es gab offenbar eine Batteriehalterung, die waren dann in Reihe geschaltet und hatten eine maximale Spannung von neun Volt. Der Korb stand mindestens vier Wochen unangetastet im Raum. Wir haben da meist irgendwelche Kriechströme, und Akkus generell haben nie die maximale Spannung. Das alles legt den Schluss nahe, dass, als der Deckel angehoben wurde, zwar die Zündeinleitung initiiert wurde, aber durch den Stromkreis zu wenig Spannung anlag.
Nun kommen wir zu den Auswirkungen: Eine große Gefahrenquelle ist die direkte Druckwelle, da gibt es Druckwerte, wo der menschliche Körper mit Verletzungen reagiert. Bei 350 Millibar, wenn der auf ein Trommelfell trifft, dann zerbersten in der Regel die Trommelfelle. Eine weitere Grenze ist ein Überdruck von 2,5 bar. Wenn der auf den Körper auftrifft, dann führt das oft zu tödlichen Lungen- oder Herzquetschungen. Bei Schwarzpulver lässt sich die Richtung der Druckwelle nicht vorhersehen, je nachdem, wie der Behälter zerplatzt. Die Stärke der Druckwelle nimmt in der Entfernung stark ab. Bei einer Entfernung von geschätzt einem Meter ist ein Druck von 2,5 bar nicht mehr gegeben. Frau M. hatte sich etwas wegbewegt, ihr Kopf war etwa einen Meter und ihr Körper noch etwas weiter entfernt. Hätte sie jetzt im Moment der Explosion die Dose direkt am Körper gehalten, dann hätte auf jeden Fall allein aufgrund der Druckwelle absolut akute Lebensgefahr bestanden.
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