svefn/sund – schlaf/schwimmen
grasi vaxin göng – gras bewachsener tunnel
Es tat gut, Matilda anzusehen. Sie gab mir das Gefühl, dass ich mit ihr wirklich überall hingehen konnte, ohne Angst zu haben, dass sie schockiert oder verärgert wäre. Wir saßen das ganze grasi vaxin göng hinüber still da. Auf einmal kam mir das Lied sehr typisch für das moderne Island vor, das sowohl auf Tunnel als auch auf Grasbewuchs großen Wert legt.
við erum með landakort af píanóinu – wir haben eine landkarte vom klavier
»Apropos«, sagte Matilda, ohne dass jemand in den letzten Minuten etwas gesagt hätte. »Ich hab mir das ausgerechnet. Auf Island gibt es 140.000 Männer. Knapp 140.000 Männer. Von denen sind 20.000 zwischen 25 und 35. Von denen sind maximal 2.000 schwul, 10.000 verheiratet, 5.000 hässlich, 1.000 geisteskrank, weitere 1.000 leben im Ausland.«
ekki vera hrædd, þú ert bara með augun lokuð – habe keine angst, du hast nur die augen geschlossen
»Was ist mit Frikki?«, fragte ich. »Der ist schwul, geisteskrank und lebt im Ausland.«
»Ziehen wir den noch ab«, sagte Matilda. »Von den verbleibenden 999 wollen viele nichts von mir.«
»Ziehen wir zehn ab.«
»Danke.«
á bakvið tvær hæ ð ir,,,, sundlaug – hinter zwei hügeln,,,, schwimmbad
»Ziehen wir 100 ab: 899. Davon lebt die Hälfte nicht in Reykjavík, bleiben 449,5. Da kann man bestimmt noch mal 200 von abziehen, die zwar nicht hässlich sind, aber zu denen ich mich nicht hingezogen fühle: Bleiben 249,5. 200 davon werde ich nie über den Weg laufen. Und wie viele von den verbleibenden 49,5 sind zu betrunken, um zu reden, wenn man sie denn mal trifft? Bleiben 9,5. Von denen sind zwei katholische Priester, einer in irgendeiner Sekte und sechs dauernd auf See. Bleibt ein halber Mann übrig.«
k/hálft óhljóð – k/halb lärm
Als wollte sie das Husarenrittartige ihrer Theorie unterstützen, führte sie ihr Glas mit einer so unkontrollierten Kreisbewegung zum Mund, dass der erste Schluck der neuen Mischung in ihr Haar schwappte.
nú snýr óttinn aftur – nun kommt die furcht zurück
»Was soll ich denn sagen«, sagte ich. »Gucken wir uns die 2.000 Männer zwischen 25 und 35 an. Von denen hatte die Hälfte noch nicht ihr Coming Out, weil sie in der konservativen Partei sind, verheiratet, katholische Priester oder Judotrainer.«
Bleiben 1.000. Von denen sind 500 ins Ausland gegangen.«
»501, mit Frikki«, bemerkte Matilda, und zurecht.
sundlaug í buskanum – s chwimmbad in der ferne
ég finn ekki fyrir hendinni á mér, en það er allt í lagi, liggðu bara kyrr – ich spüre meine hand nicht mehr, aber das ist in ordnung, lieg einfach ganz ruhig
»Bleiben 499. Von denen wohnt die Hälfte nicht in Reykjavík: 249,5. Wenn du jetzt die Verliebten und die enttäuschten Wracks abziehst, kannst du das ruhig noch mal durch drei teilen, macht: 83. Von denen ist die Hälfte hässlich oder dumm. 41,5 – von denen wollen 20 nichts von mir, und weitere 20 sind Stewards, Piloten und Seemänner, daher nie da. Bleiben 1,5 Männer.«
loksins erum við engin – endlich sind wir niemand
»Das ist besser als bei mir«, sagte Matilda.
»Aber einer davon bin ich«, sagte ich.
sveitin milli sólkerfa – das land zwischen den sonnensystemen
Jetzt, wo der Gin alle war, fiel uns auf, dass die CD zu Ende war.
»Zusammen bekämen wir den perfekten Mann«, sagte Matilda.
»Lassen wir ihn nicht warten.«
Wieder, wie immer, der Laugavegur.
Da die Bürgersteige schon in der Nichtweihnachtszeit zu schmal für die vielen Einkaufswilligen waren, wurden die Weihnachtsbäume kurzerhand über den Schaufenstern an die Häuserwände genagelt, aus denen sie wie Geschwüre herauszuwachsen schienen. Da ich in Hamburg-Veddel wohnte und Fußgängerzonen sowie Supermärkte mied, war es mir gelungen, durch den November zu kommen, ohne daran erinnert zu werden, dass Weihnachten immer näher rückte. Den Beginn der Adventszeit hatte ich genauso verdrängt wie die Tatsache, dass ich dieses Weihnachten wohl ohne Milan feiern musste.
Die Bäume hier waren mit Lichterketten umwickelt und zitterten über den Köpfen der Menschen im Sturm wie erleuchtete Damoklesschwerter. Wenn sogar die sich bis Weihnachten hier halten konnten, konnte ich das erst recht. Mir war klar geworden, wo ich Weihnachten feiern würde: hier. Feiern! Feiern, und nicht an Milan denken. Milan, der seit drei Jahren mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen und der erste nach dem Aufwachen gewesen war. Ab jetzt würde ich so lange nicht mehr an ihn denken, bis ich ihn vergessen hatte.
Wenig später standen wir im kaffi gógó und erlebten einen dieser Abende. Maggi Frímannsson wartete auf seine kleine Freundin und überredete mich, Kaffeeschnäpse zu trinken, deren oberste Lage man anzünden musste. Er fand das weihnachtlich. In der anderen Ecke des Raums entdeckte ich eine Frau, die in ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid an der ebenfalls schwarzen Wand fast verschwand, wäre nicht ihr blasser Kopf gewesen, der vor der Wand zu schweben schien. Es war die Schweizerin, die ich gestern um diese Zeit noch für eine Performancekünstlerin gehalten hatte. Auch sie sah mich und kam herüber. Schon auf dem Weg holte sie eine Art Werbepostkarte aus ihrer Tasche, die sie mir hinhielt, sobald wir uns begrüßt hatten. Darauf war ein Tortendiagramm, das eine Vierphasentheorie des Liebeskummers darstellte. Die vier Tortenstücke, aus denen sich der Liebeskummer zusammensetzte, hießen: Schmerz, Zorn, Reue und Vorbei. Darunter stand: »es ist keine schande schwach zu sein, es ist keine schande verletzt zu sein, es ist keine schande verlassen zu sein, es ist keine schande traurig zu sein, es ist keine schande wütend zu sein, es ist keine schande verwirrt zu sein, es ist keine schande kompliziert zu sein, es ist keine schande romantisch zu sein, es ist keine schande unproduktiv zu sein, es ist keine schande reich zu sein, es ist keine schande großzügig zu sein, es ist keine schande nett zu sein …« Ich drehte die Karte um: »Schreiben Sie uns. Wir verwahren Ihre Erinnerungen für Sie, sicher und diskret. Gesellschaft der Liebeskranken, Graue Gasse, Zürich.«
»Was soll ich damit?«
»Erinnerungen müssen weg. Es hilft. Ich weiß es«, sagte die Schweizerin.
»Ich bin nicht der Typ, der sich viel erinnert. Ich bin eher der Typ, der vergisst.«
»Man kann nicht vergessen, nur verdrängen«, sagte sie, doch ich erklärte ihr, dass ich es vergessen nannte und dass es bis jetzt immer geholfen hatte. Dann wieder Kaffeeschnäpse. Maggi Frímannssons Freundin kam nicht. Kaffeeschnäpse. Irgendwann wurde uns das Anzünden lästig, und wir stiegen auf Bier um.
Dann waren wir plötzlich woanders. In einer hellen, unpersönlichen Wohnung mit einer riesigen Küche aus Aluminium. Menschen küssten sich, Matilda saß auf einem weißen Sofa, ich umarmte eine große schlanke Vase und wiegte mich im Takt der Musik. Dann war da ein dünner, faltiger Mann in einem Anzug namens Hjálmar. Oder ein dünner Mann in einem faltigen Anzug namens Hilmar. Auf jeden Fall hatte er eine Cognacflasche, in deren Nähe ich mich länger aufhielt. Dann legte ich meine Wange an den Aluminiumkühlschrank. Ich hatte beschlossen, ein bisschen in dieser Aluminiumwelt zu ruhen, und schloss die Augen. So musste es wohl aussehen, das Nichts, im modernen Zuhause: Kühles Aluminium – das Nichts, vor dem ich stand, an das ich meine Wange lehnte, das Nichts, an dem ich langsam abwärts glitt.
TEIL ZWEI
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