KRISTOF MAGNUSSON
Verlag Antje Kunstmann
Für meine Schwester Nicola
»Das Mitfühlen mit allen Geschöpfen ist es, was den Menschen erst wirklich zum Menschen macht.« ALBERT SCHWEITZER
»Nein!« HEIDI KLUM
DER WETTERBERICHT nach den Spätnachrichten kündigte einen weiteren heißen Tag in einer Reihe von heißen Tagen an, die Anita Cornelius bereits jetzt wie unendlich erschienen. Seit Wochen konnte sie kaum einschlafen vor Hitze, auch jetzt hatte sie es wieder versucht, dann jedoch lieber den Fernseher eingeschaltet, die Nachrichten gesehen und dabei die letzten Salzcracker gegessen, die der Kollege von der Tagesschicht übrig gelassen hatte.
Es war eine ziemlich normale Nacht am Notarzt-Stützpunkt des Krankenhauses am Urban in Berlin-Kreuzberg. Anita und ihr Assistent Maik hatten bisher drei Alarme gehabt, einmal Brustschmerzen, einmal Blutzucker und einen akuten Bauch, alle bei alten Menschen. So war es eigentlich immer, selbst in dieser Gegend der Stadt, aus der das Fernsehen gern von Messerstechereien und Drogenkriminalität berichtete. Häufiges ist häufig und Seltenes ist selten , das hatte Anita bereits im Studium gelernt, und Altwerden war eben häufig in diesem Land.
Anita stand auf, um sich aus dem Automaten am Eingang der Rettungsstelle einen Snack zu ziehen. Nachdem sie eine Münze eingeworfen und gewählt hatte, warf sie einen Blick auf das Fach mit den Mars-Riegeln und beobachtete die Metallspirale, die das Mars an das Ende des Regals schob, bis der Riegel in Schieflage geriet, mit der Oberseite nach vorne fiel und gegen die Spirale stieß, die in diesem Moment aufhörte sich zu drehen. Anita sah auf ihren Schokoriegel, zwischen Spirale und Regal über dem Abgrund verkeilt. Super Vertrauensbeweis für ein Krankenhaus, wenn nicht einmal der Snack-Automat funktioniert, dachte Anita und hätte es wohl für ein schlechtes Omen gehalten, wenn sie an solche Dinge glauben würde, doch das tat sie nicht.
Anita dachte an ihren Sohn. Wie oft hatte sie mit Lukas hier gestanden und gehofft, der Automat würde nicht ihr letztes Kleingeld fressen und den gewünschten Riegel dann doch behalten? Als Lukas klein gewesen war, hatte er dem Automaten sogar gut zugeredet, um seine Chancen zu erhöhen. Inzwischen, mit vierzehn Jahren, tat er das natürlich nicht mehr, er kam sie ohnehin nur noch selten auf der Arbeit besuchen, obwohl er jetzt noch näher an der Klinik wohnte als Anita selbst, kaum einhundert Meter entfernt, bei Anitas Ex-Mann und dessen neuer Freundin.
Anita schlug gegen den Automaten. Sie wusste, dass das nichts brachte, tat es aber trotzdem. Sie konnte es doch nicht einfach hinnehmen, dass der Automat ihren Snack nicht hergab, rüttelte an ihm, immer heftiger, da hörte sie ein schrilles Kreischen aus ihrer Hosentasche. Der Funkmeldeempfänger. Sie sah auf die Leuchtanzeige: Alarm: 1600: RTW 1505: NEF E: 46 VU Skalitzer Straße 72 0:32 . Anita schaltete ihn aus und eilte zurück, zog ihre orangefarbene Funktionsjacke an und fuhr sich durch die Haare, bis sie einigermaßen locker auf den Rücken mit der Aufschrift Notärztin fielen. Maik kam aus seinem Zimmer, war auch schon komplett angezogen und tastete seine Frisur nach eventuellen Deformationen durch das Kopfkissen ab, auf dem er vor einer Minute noch gelegen hatte. So schritten sie, beide ihre Haare richtend, auf die Auffahrt der Rettungsstelle, so sagte Maik es zumindest immer: Ein Berliner Feuerwehrmann rennt nicht zum Einsatz, er geht auch nicht, er schreitet .
Sie stiegen in ihr Notarzt-Einsatzfahrzeug und fuhren vom Klinikgelände. Als das NEF auf dem Carl-Herz-Ufer beschleunigte, klapperte ihre Ausrüstung immer lauter in den säuberlich beschrifteten Schubladen. Anita sah in die schwarzen Erdgeschossfenster, in denen es blau aufflackerte, während sie vorbeifuhren, still und schnell. Die Leitstelle hatte inzwischen die Einsatzdaten auf ihr Navi übertragen, ein Verkehrsunfall war also ihr nächster Einsatz, die nächste Fahrt durch diese Nacht.
»Hallo, Sonnenschein, hast du gut geschlafen?«, fragte Maik, als sie auf der Baerwaldstraße waren.
»Der Snack-Automat funktioniert nicht.«
»Dann hoffen wir doch mal, dass das heute Nacht unser schwierigster Patient bleibt.«
»Da hast du auch wieder recht«, sagte Anita. Sie war immer froh, wenn Maik ihr Rettungsassistent war. Nach all den Einsätzen, den unzähligen Fahrten über rote Ampeln zu nachtschlafener Zeit, den vielen Stunden des gemeinsamen Wachens und Wartens, waren Anita Cornelius und dieser große Mann mit dem dichten schwarzen Haar und den tätowierten Unterarmen längst Freunde geworden und gingen manchmal nach der Arbeit ein Bier trinken. Maik hatte Anita sogar erzählt, dass er einmal ein paar Semester Medizin studiert hatte, von seinen Feuerwehr-Kollegen wusste das niemand.
»Ich konnte eh nicht schlafen bei der Hitze«, sagte Anita.
»Ich schon«, sagte Maik, dann gähnte er, wie zum Beweis, hob den Arm und legte den Kippschalter um, kurz bevor sie auf die Gitschiner Straße abbogen. Das Martinshorn. Nachts schien es immer besonders laut, sodass Maik es erst in letzter Sekunde ein- und so schnell wie möglich wieder ausschaltete, was Anita gefiel, denn sie wollte nicht allzu wach werden, um nach diesem Alarm endlich etwas Schlaf zu finden. Wenn jemand in Berlin die Eins-Eins-Zwei rief, fuhr normalerweise ein Rettungswagen los. Nur wenn die Leitstelle schwere Fälle erwarte, rief sie Anita und Maik mit ihrem Notarzt-Einsatzfahrzeug hinzu, und es passierte nicht selten, dass die beiden noch auf der Anfahrt erfuhren, dass sie wieder umkehren konnten, weil es doch nicht so schlimm war wie erwartet. Wenn Anita Glück hatte, wäre sie rechtzeitig in der Klinik zurück, um noch einen Versuch zu machen, ihren Schokoriegel zu befreien.
Sie erreichten im Nu das Kottbusser Tor, dann wurde der Verkehr dichter. Auf dem Bürgersteig vor dem Südblock standen zwei angesäuselte Gestalten, die offenbar nicht wussten, wo sie hinsollten und einander erst in Richtung Schlesisches, dann Richtung Hallesches Tor zogen. Wenig später passierten Anita und Maik eine nach Junggesellenabschied aussehende Gruppe von jungen Männern in einheitlichen T-Shirts.
Anita sah ihnen hinterher und rief sich ins Gedächtnis, was bei einem schwer verletzten Unfallopfer zu tun sein könnte, dachte an die wichtigsten Medikamente und machte im Geiste eine Entlastungspunktion nach Monaldi, um gefangene Luft oder Blut herauszuholen, das auf die Lunge drückte – der optimale Ansatzpunkt lag zwischen der zweiten und dritten Rippe, medioklavikulär. Natürlich wusste sie das, doch es beruhigte sie, sich solche Dinge immer wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Vor ihnen fuhren die Autos inzwischen so langsam, dass Anita sich überhaupt nicht mehr vorstellen konnte, es wäre etwas Schlimmes passiert. Wahrscheinlich gab es nur einen Betrunkenen zu versorgen, der vor eines dieser Schritttempo fahrenden Autos gelaufen war.
Der Verkehr war vollkommen zum Stillstand gekommen. Die Unfallstelle war noch nicht in Sicht, doch Anita sah bereits den zitternden Widerschein der blauen Lichter an den Häuserwänden, während sie sich langsam und laut durch die Autos schoben, die ihnen Platz machten, so gut es ging. Bald kamen die ersten Einsatzfahrzeuge in Sicht, ein Rettungswagen der Johanniter, ein Lösch-Hilfeleistungsfahrzeug, bald darauf ein Wagen der Einsatzleitung. Zwei Polizisten in neongelben Westen leiteten den Verkehr in eine heillos verstopfte Seitenstraße. Anita begrub die Hoffnung, ihren Stützpunkt bald wiederzusehen.
»Ganz schöne Blaulicht-Disko«, sagte Maik.
»Das kannst du wohl sagen. Ich habe jetzt eher mit einem kleinen Blechschaden gerechnet.«
»Da war wohl eher ein verhinderter Sebastian Vettel am Start«, sagte Maik und zeigte durch die Windschutzscheibe auf ein Auto, das frontal gegen einen der Eisenpfeiler der Hochbahntrasse der U1 geprallt war.
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