»Nun mach es nicht so spannend, Mama. Hat es geklappt? Hat er überlebt?«
»Ja«, sagte Anita und hielt ihrem Sohn die offene rechte Hand hin. Lukas zögerte einen kurzen Moment, dann klatschte er mit seiner Hand in ihre, wie es Sportler derselben Mannschaft bei einem Erfolg taten und sagte:
»Genial.«
»Was wollen wir denn essen?«, fragte Anita. Sie wollte nicht von ihrer normalen Routine abweichen. Alles sollte laufen wie immer in den letzten Monaten: Sie würde Lukas das Telefon geben. Die besten Lieferdienste waren gespeichert, die Bestellnummern seiner Lieblingsgerichte kannte Lukas inzwischen auswendig. Sie würde den Tisch decken, und wenn der Lieferservice klingelte, würde sie Lukas mit ihrem Portemonnaie zur Tür schicken, ihm einschärfen, zehn Prozent Trinkgeld zu geben und währenddessen die Soja-Sauce oder den Pizzaschneider holen, je nachdem. Nach dem Essen würde Lukas Klavier üben, den Computer anschalten, Hausaufgaben machen und dabei mit seinen Freunden chatten. Irgendwann würde sie mit einem Stück Kuchen in sein Zimmer kommen, sie würden ein bisschen reden. So sollte es weitergehen. Wie geplant.
»Pizza? Vietnamesisch? Steak?«
»Kann ich gleich zu Matthäus?«, fragte Lukas. Anita sah auf das Telefon in ihrer Hand. »Weil, das haben wir uns so gedacht, er hat einen neuen Computer, gerade erst gekauft. Da wollen wir ein paar Sachen installieren.«
»Willst du nicht erst was essen?«
»Wir holen uns einen Döner.«
Anita steckte das Telefon wieder ein. Natürlich konnte Lukas zu Matthäus. Anita kannte die Eltern, die Mutter arbeitete im Finanzministerium, der Mann im Entwicklungshilfeministerium. Langweilige Leute, aber Langweiligsein war nun wirklich der letzte Grund, aus dem man seinem Sohn den Umgang mit einer Familie verbieten konnte.
»Ich könnte dann auch bei Matthäus schlafen, er hat schon gefragt, wäre echt toll, wenn das ginge. Außerdem ist seine Mutter gut in Mathe, die kann uns für die Klausur am Freitag helfen.«
Anita wollte erst antworten, dass auch sie gut in Mathe sei, hielt sich jedoch zurück und sagte stattdessen:
»Und seine Eltern haben wirklich nichts dagegen?«
»Nein«, antwortete Lukas, zwar nicht so gehetzt, dass es unhöflich klang, aber doch eilig genug, damit seine Mutter mitbekam, dass er ihr genau das eben bereits gesagt hatte.
»Natürlich kannst du das. Spricht absolut nichts dagegen«, sagte Anita und brachte Lukas mit einem merkwürdigen Gefühl der Enttäuschung zur Tür. Doch dann sah er sich auf dem Treppenabsatz noch einmal nach ihr um, rief ihr über das Geländer hinweg ein »Danke« zu, lächelte sie an, und wie immer, wenn er das tat, verflog ihr Ärger. Dieses Lächeln war eine seiner ersten Reaktionen in diesem Leben gewesen, sie war der erste Mensch, der es je gesehen hatte; mit diesem Lächeln hatte er ihr zum ersten Mal gesagt: Ich bin dein Sohn.
Anita blieb noch einen Moment im Türrahmen stehen, Lukas’ Schritte im Treppenhaus wurden langsam leiser.
»Viel Spaß«, rief Anita ihm hinterher, als wäre das die normalste Sache der Welt. Und eigentlich war es das ja auch.
Anita drehte eine ratlose Runde durch die eigens für Lukas aufgeräumte Wohnung. Was nun? Seit ihre beiden besten Freundinnen aus dem Studium sich in Speckgürtel-Praxen in Hamburg und Düsseldorf eingekauft hatten, kannte sie hier eigentlich fast nur noch Leute, die sie durch Lukas kennengelernt hatte, Familienfreunde. Sie kam sich vor, als hätte sie auf ein Date gewartet und sei versetzt worden. Normalerweise war sie nicht so. Oder wollte zumindest nicht so sein. Natürlich wurde ihr Sohn erwachsen, im Allgemeinen konnte sie das gut hinnehmen. Doch mit der Erinnerung an die vergangene Nacht hätte sie an diesem Tag die Zeit gern etwas festgehalten, die Zeit der Kindheit, die Zeit, die Zeit.
Sie beschloss, sich wieder hinzulegen. Doch als sie in ihrem Schlafzimmer stand, in dem sie auch tagsüber Licht machen musste, weil sie die Fenster mit Alufolie zugeklebt hatte, und dann auch noch ihre zwei Wecker und die maßgefertigten, rosafarbenen Ohrstöpsel sah, war ihr jede Lust vergangen, sich hier aufzuhalten – viel zu sehr fühlte sie sich durch all das an ihren Alltag erinnert, der ihr nach Lukas’ Abgang wie eine aus der Kurve geflogene Seifenkiste vorkam, die sich nicht mehr fortbewegte, auch wenn die Räder sich in der Luft noch etwas drehten. Sie öffnete die Nachttischschublade, nahm die Ausgabe der Zeitschrift Der Notarzt heraus, mit der sie ihren Kondomvorrat vor ihrem Sohn hatte verbergen wollen und verließ das Haus.
Es war nicht einmal fünfzehn Uhr. Auf ihrem Weg die Graefestraße hinunter zum Landwehrkanal gingen vor ihr zwei Männer mit abgeschnittenen schwarzen Cargo-Hosen. Einer trug ein ausgewaschenes Band-T-Shirt, New Model Army Impurity Tour 1990 , sein grau melierter Pferdeschwanz verdeckte die ersten Tourdaten. Ihr Blick wanderte hinab bis zu den blassen Kniekehlen und weiter, sie registrierte kurz eine für sein Alter schon recht ausgeprägte Varikose, Krampfadern, rechts femoral, dann zog sie an ihnen vorbei und ging Richtung Norden.
Auf der Skalitzer Straße floss der Verkehr wieder. Das BMW-Wrack war entfernt, nichts erinnerte die Autofahrer auf dem Weg zum Schlesischen Tor daran, was letzte Nacht hier passiert war. Anita ging weiter, schlug einen Bogen zum Landwehrkanal und setzte sich am Ufer in ein Café, in dem sie schon einige Male gewesen war, ohne sich jemals den Namen merken zu können. Nun, wo ihr Tag nicht so verlief wie geplant, konnte sie wenigstens etwas trinken. Schon auf dem Weg hatte sie das Bild eines Glases mit kaltem Weißwein im Kopf gehabt, da stand die Kellnerin auch schon vor ihr und fragte:
»Und?«
»Ich hätte gern ein Glas Pfefferminztee«, sagte Anita.
Die teilnahmslos wirkenden Augen in ihrem blass geschminkten Gesicht, die dunkelroten Lippen und die Frisur, der wie mit dem Rasiermesser präzis gezogene Pony, ließen die Kellnerin derart streng aussehen, dass Anita sich nicht getraut hatte, mitten am Tag ein Glas Wein zu bestellen, wenngleich sie wusste, dass es der Kellnerin herzlich egal gewesen wäre. Die Kellnerin hatte eine Windrose auf die linke Schulter tätowiert, die bei allen Bewegungen ihre kreisrunde Form behielt, sogar als sie sich wenig später nach vorn beugte, um den Tee vor Anita hinzustellen. Er kam in einem Latte-Macchiato-Glas, sodass Anita eine gefühlte Ewigkeit warten musste, bis sie, das Glas vorsichtig am obersten Rand anhebend, den ersten Schluck nehmen konnte. Als sie sich auch dann noch die Zunge verbrannte, winkte sie die strenge Kellnerin wieder heran und sagte:
»Und vielleicht noch einen Weißwein dazu.«
»Chardonnay? Veltliner? Riesling?«
»Eigentlich egal.«
»Dann Chardonnay«, sagte die Kellnerin, verschwand ohne eine Antwort abzuwarten und kehrte wenig später mit einem Glas zurück. Anita nahm einen ersten, für ihre Verhältnisse ziemlich großen Schluck. Sie wohnte jetzt seit einem Jahr wieder allein und war sich bei den Freiheiten, die sie sich in dieser Zeit genommen hatte, oft zehn Jahre jünger vorgekommen. Doch nun, nach dem ersten Schluck Wein am helllichten Tag, fühlte sie sich plötzlich zehn Jahre älter. Wie eine Frau mittleren Alters, deren Kinder gerade ausgezogen waren und sie mit dem Familienhund zurückgelassen hatten.
Kaum eine Viertelstunde später winkte Anita schon viel weniger zögerlich erneut nach der Kellnerin, und als sie das zweite Glas Wein trank, verschwanden diese Gedanken wie die Klumpen einer Tütensuppe in heißem Wasser. Manche schwammen länger an der Oberfläche als andere, doch schließlich waren sie alle weg.
Gegenüber stand ein Miet-Transporter, auf dessen Plane ein Seehund aufgedruckt war. Der Seehund hob den Kopf, sah Anita direkt in die Augen und wirkte dabei so aufgekratzt heiter, dass Anita sich nicht nur beobachtet, sondern dazu noch verhöhnt vorkam. Offensichtlich zog jemand im Haus gegenüber ein. Wie jedes Jahr brachte das Ende des Sommers nicht nur eine neue Herbstkollektion in die Modeläden, sondern auch mit dem beginnenden Wintersemester eine neue Kollektion von jungen Männern in ihre Nachbarschaft – ein Phänomen, das sie mit einer Mischung aus Amüsement und Melancholie betrachtete, wobei der Melancholie-Anteil in den letzten Jahren deutlich zugenommen hatte.
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