Björn Bicker - Was wir erben

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Elisabeth ist Schauspielerin an einem renommierten Theater. Mit Holger, einem Arzt, lebt sie das, was man ein geordnetes, erfolgreiches Leben nennen könnte. Bis ein Fremder sie anruft und behauptet, ihr Bruder zu sein. Er sei sich ganz sicher und auch schon in der Stadt, ob sie sich sehen könnten. Bei ihrem Treffen zeigt er ihr ein Foto: ihr Vater und seine Mutter während der Olympischen Spiele in München, 1972. Elisabeths Geburtsjahr – und das des halben Bruders. Seine Mutter sei gestorben, ob Elisabeth ihm mehr über seinen Vater erzählen könne. Sie deutet an, dass es nicht leicht war mit dem Vater, dem Flüchtling, dem Trinker, dem Soldaten. Elisabeth beginnt, einen Brief zu schreiben, in dem sie dem Bruder vom Leben des Vaters und ihrer Familie berichtet. Ein Leben im frostigen Schlagschatten der deutschen Geschichte, ein Leben, das an ihr klebt wie eine zweite Haut. Auf den Spuren des Vaters landet sie in dessen Geburtsstadt, die in jenem doppelt untergegangenen Land liegt, in dem für sie Vergangenheit und Gegenwart, Fiktion und Realität verschmelzen. Die echten und die erfundenen Gespenster der deutschen Geschichte tauchen in Elisabeths Leben wieder auf: das Politische, das Private, die Liebe, der Hass, Betrug und Wahrheit, das Theater und die Wirk­lichkeit. Eins wuchert im anderen herum. Über Generationen hinweg.

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Björn Bicker

WAS WIR ERBEN

Roman

Verlag Antje Kunstmann

And you know he’ll never let you leave

’Cause blood is clear, it never lies

Oh blood never lies

Oh blood never lies

Oh blood never lies

Oh blood never lies

Thurston Moore: Blood never lies

Auf dem Foto sieht man den Vater als sechsunddreißigjährigen Mann an der Seite einer blonden Frau, die ein buntes, eng geschnittenes Sommerkleid trägt. Sie legt ihren Arm um seine Hüfte, er schaut seitlich zu Boden. Sie posiert. Hinter der Scheibe ein paar kostümierte Hostessen. Das Gesicht des Vaters im Profil, ein dunkler Schatten schneidet den Kopf in zwei Hälften. Der Körperhaltung nach passt ihm die Situation nicht, aber das kann täuschen. Er trägt eine braune Anzughose mit Schlag und eines von seinen weißen, kurzärmeligen Sommerhemden. Dazu einen braunen Kunstledergürtel. Die Füße sind abgeschnitten. Wahrscheinlich hat er Sandalen und Socken an. Die beiden stehen neben dem Eingang der Olympiaschwimmhalle. Rechts das himmelblaue Piktogramm mit den zwei weißen Figuren beim Startsprung. Wenn man die Geschichte kennt, erahnt man bei Deiner Mutter einen kleinen Bauch unter dem knalligen Paisley. Auf der Rückseite der Originalfotografie hat Deine Mutter Ort, Datum und Anlass vermerkt. Du hast ihre Notizen kopiert. Fein säuberlich hast Du mit Kugelschreiber hinten auf dieses dünne Blatt Papier geschrieben: München, 29. August 1972. Entscheidung 200 M K.

Ich bin im selben Jahr am 28. Dezember auf die Welt gekommen.

Vier Monate vor meiner Geburt stand der Vater auf dem Gelände der Olympischen Sommerspiele 1972 und hat sich mit Deiner Mutter fotografieren lassen.

Als diese Aufnahme gemacht wurde, war meine Mutter im fünften Monat schwanger. Mit mir.

Er hat es gehasst, fotografiert zu werden.

Der Alphaville- Forever-Young -Klingelton, den Holger ein paar Tage vorher auf unserem neuen Telefon programmiert hatte, hat Dich angekündigt, mittags, an einem ganz normalen Dienstag, und ich habe gedacht: Bestimmt wieder so eine Umfrage für irgendeinen Marktforschungsscheiß. Ich habe den Hörer abgenommen, obwohl ich wusste, keiner von meinen Leuten ruft mich um diese Uhrzeit an. Deine ruhige Stimme, der amerikanische Akzent. Legen Sie bitte nicht auf, hast Du gesagt. Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen. Und ich habe gedacht, klar, Lotterie, Umfrage, was weiß ich, und ich habe Luft geholt und in meinen tiefen Atmer hinein hast Du gesagt: Ich glaube, ich bin Ihr Bruder. Wie bitte? Mein Bruder? Und dann hast Du es mir ganz langsam erklärt. Dass Deine Mutter gestorben sei. Dass sie Dir in einem Brief offenbart habe, wer Dein leiblicher Vater war. Dass Du erst nichts davon wissen wolltest, dass Du dann aber doch Nachforschungen angestellt hättest und dabei auf mich gestoßen seist. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass sich Dein Anruf als besonders raffinierter Marketinggag entpuppen würde. Oder als Trickbetrug. Jetzt gleich, habe ich gehofft, wird er anfangen von Geldproblemen und Verwandtschaft und Notlage zu reden, und dann hole ich aus zum Gegenschlag. Aber ich habe mich getäuscht. Haarklein hast Du mir erklärt, wie Du bei Deiner Recherche vorgegangen bist. Dass Du erst zum Hörer gegriffen hast, als Du Dir ganz sicher warst. Die muss es sein. Ich bin schon in der Stadt, hast Du gesagt. Am nächsten Tag haben wir uns getroffen.

Du hast gesagt, dass Du wieder zurück musst. Nach Amerika. Weil Deine Familie auf Dich warte. Der Job. Als ich Dich gefragt habe, was Du beruflich machst, hast Du etwas verlegen gelacht. Uni, Werbung, habe ich angefangen zu raten, nein, nein, bist Du mir ins Wort gefallen, ich bin Lehrer. Biologie, Chemie. Eigentlich hättest Du Forscher werden wollen, Arzneimittel, irgend so was, aber dazu habe Dir die Ausdauer gefehlt. Und dann hast Du gelacht. Und es sah aus, als hätte der Vater gelacht.

Ich habe Dir einen Abriss von seinem Leben gegeben. Die Kindheit. Der Krieg. Die Enteignung der Familie. Die Flucht in den Westen. Das abgebrochene Studium. Der Einritt in die neu gegründete Bundeswehr, um Frau und Kind zu versorgen. Die Trinkerei. Die Versetzung aufs Land. Die Abstinenz. Die Politik. Die Kirche. Der Tod. Ich habe Dir zu verstehen gegeben, dass es nicht leicht war mit dem Vater. Aber nicht so tragisch, Zeit heilt Wunden, habe ich abgewiegelt. Ich habe so getan, als ob mich Deine Geschichte nicht sonderlich bewegen würde. Der Vater hatte andauernd irgendwelche Affären, habe ich gesagt. Es würde mich nicht wundern, wenn da draußen noch mehr von Deiner Sorte rumliefen. Ich hatte Mühe, meine Tränen zu unterdrücken.

Ich habe Dich angelogen. Der Vater war kein Typ für Affären.

Wir sitzen uns in diesem Café gegenüber. Ich beobachte Dich. Wie Du sprichst. Wie Deine Hände aussehen. Ich vergleiche Dich. Mit mir. Mit ihm. Die Stimme, die Haare, aber ich kann nichts erkennen. Dein Hals ist kurz. Seiner war lang. Mein Hals.

Und dann sage ich: Wenn ich Dich einfach so getroffen hätte, auf einer Party oder im Theater, dann wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, dass Du mit mir verwandt sein könntest. Du lächelst verlegen. Du versuchst, Deine Hände vor mir zu verbergen. Ich höre meine Stimme: Eine Affäre. Weiter nichts. Das sieht ihm ähnlich. Deine Augen werden feucht.

Ehrlich gesagt, das Foto spricht eine andere Sprache. Das sieht nach Doppelleben aus, nach Liebe, nach großem Kino. Du bist einen Monat jünger als ich, das heißt, vier Wochen nach meiner Zeugung hat mein Vater mit Deiner Mutter Sex gehabt. Mit dieser forschen, gut aussehenden Frau auf dem Foto. Ihre Beine sind nach außen gespannt, leichtes O, aber die Füße sind abgeschnitten, wie beim Vater, man sieht die Schuhe nicht, der Rock ist kurz, die Beine sind stramm, ihre Oberarme kräftig, gebräunt. Eine Haarlocke fällt ihr ins Gesicht, ihr Mund ist links etwas nach oben verzogen, wahrscheinlich, weil sie die Locke aus dem Auge blasen will. Das sieht frech aus, selbstbewusst, überhaupt kommt mir diese Frau auf dem Foto so vor, als wüsste sie ziemlich genau, was sie will. Aber was sagt schon ein Foto.

Du streichst Dir die Tränen mit den Fingern von der Wange. Du schaust mich lächelnd an. Entschuldigst Dich für die Tränen. Meine kehlige Stimme: Warum hast Du nie richtig nachgefragt? Hast Du nie den Drang verspürt, nach ihm zu suchen? Nein, sagst Du. Ich war ja glücklich. Und wo hat sie all die Jahre dieses Foto versteckt? Musste sie nicht Angst haben, dass Du das Bild entdeckst? Was wäre eigentlich, wenn Deine Mutter ihre Wahrheit mit ins Grab genommen hätte? Wenn das Foto nie aufgetaucht wäre? Wenn Deine Mutter das Stückchen Papier in den Müll geworfen hätte? Das Bild wäre wahrscheinlich im Verbrennungsofen irgendeiner amerikanischen Halde gelandet, es wäre als kleiner Teil einer giftigen Wolke in den Himmel gestiegen und die Wahrheit über den Vater und Deine Mutter wäre als saurer Regen auf die Erde getropft. Deine Mutter hätte ein paar Tränen verdrückt, und Dein Leben würde genauso weitergehen wie vorher.

Es geht nicht nur um den Vater. Es geht auch um Deine Mutter.

Erzählst du mir mehr von ihm, fragst Du mich, wir könnten skypen, mailen, alles Mögliche. Ich weiß nicht, sage ich. Lass mir Zeit. Ein paar Wochen vielleicht. Bei mir ist gerade viel los.

Wir verabschieden uns, ohne uns anzufassen.

Kein Händedruck, nichts.

Als ich nach unserem Treffen wieder zu Hause war, wusste ich nichts mit mir anzufangen. Ich bin ziellos durch die Wohnung getigert, von Raum zu Raum und an keinem Punkt der Wohnung hat es mich länger als ein paar Sekunden gehalten. Der Fernseher hat sein farbiges Gift versprüht. Die Augen taten weh. Das Sofa hat gebrannt unter meinem Hintern. Der Küchenboden stand unter Strom. Ich habe mit den Fingern in den Haaren gedreht, bis sie sich angefühlt haben wie Stroh. Ich habe das Radio eingeschaltet, um es ein paar Takte später wieder auszuschalten. Ich habe den Hörer der Gegensprechanlage aus der Wandhalterung genommen, kurz dem Rauschen der Straße gelauscht, ein paar Schritte, ein Auto, vorbei laufende Partyleute, ich habe den Hörer wieder eingehängt.

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