1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Der zweite Unterschied betrifft die Sichtbarkeit, die „Greifbarkeit“. Die älteren Werte von Tüchtigkeit und Erfolg erforderten Handlungen, die im Grunde öffentlich waren, die sich zur Schau stellten und in der Sonne glänzten. Nicht so die neuere Ethik der Polis. Nach Gerechtigkeit und Ehrlichkeit muss man sich richten, auch wenn niemand das sieht, wenn niemand anders anwesend ist. Diese Tugenden müssen auf die Verlockungen des „Ansehens“ verzichten, und das macht ihre Rechtfertigung notwendiger und zugleich schwieriger. (Daher die Sage von Gyges’ Ring in Buch II der Politeia/Der Staat.)
Platons Ansatz: Die neuen Werte nach dem alten Muster legitimieren
Die Komplexität von Platons Auseinandersetzung mit dem sokratischen Paradoxon und mit der darin enthaltenen Idee der Freiheit sollte nun deutlich werden. Im Grunde machte Platon dieses Paradoxon zur hauptsächlichen Prämisse seines überragenden Versuchs, die bitter notwendige philosophische Legitimation der neueren, stilleren Tugenden zu entwerfen. Seine Strategie ergab sich auf natürliche Weise, war vielleicht die einzige, die ihm offenstand. Sein grundlegender Plan war, einfach die Kluft zwischen Alt und Neu zu überbrücken, zu zeigen, dass dieselbe Argumentation, die für die alten Werte so offensichtlich zutraf, auch für die neuen galt – wenn auch auf subtilere Weise. Sein Ziel war, zu veranschaulichen, dass Gerechtigkeit und die stillen Tugenden letztendlich genauso „natürlich“ erwünscht waren wie Erfolg und Spitzenleistungen, dass sie, wenn man sie eingehend prüfte, ebenfalls „ihren Lohn in sich trugen“, dass man sie, wenn man sie richtig verstand, ebensowenig „absichtlich“ vernachlässigen würde, wie man „freiwillig“ Schande und Scheitern erstreben würde. Das sokratische Diktum war somit der archimedische feste Punkt, um den sich das ganze Unternehmen „Rechtfertigung der neuen Werte“ drehen sollte.
Eine falsche
Psychologie …
Damit ersetzte Platon eigentlich im sokratischen Paradoxon die alten durch die neuen Werte. Er verschob seine Bedeutung – weg von der Idee, dass der Mensch freiwillig nach Ehre und Größe strebe, hin zu der ziemlich andersartigen Idee, dass er freiwillig der Gerechtigkeit folge. Auf diese Weise schuf er den Eindruck, dass die neue Moral nicht eine gesellschaftlich erzeugte Forderung war, sondern nur repräsentierte, was der Mensch „wirklich“ wollte. Dabei zwang er ihm im Endeffekt eine falsche Psychologie auf. Er opferte eine genaue Wahrnehmung der tatsächlichen menschlichen Antriebe, um den neuen Werten den Anschein der Natürlichkeit und Legitimität zu geben – mit den Resultaten dieses Konzepts leben wir noch heute.
… als Fundament einer mächtigen Idee: Freiheit ist Gehorsam gegenüber der Vernunft
Diese Strategie legte das Fundament für die eine Idee der Freiheit, die einflussreicher war als alle anderen, denn nun war die Freiheit mit dem Guten verknüpft, und nun war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Vorstellung, dass der Mensch frei ist, wenn er im Einklang mit der Vernunft handelt, und unfrei, wenn er gegen sie verstößt. Platon musste hier vielleicht gar keinen Schritt mehr machen, da Tugend und Rationalität für ihn ganz eng zusammenhingen („Tugend ist eine Form des Wissens“). Jedenfalls liegt die Idee, dass der Mensch frei ist, wenn er der Vernunft gehorcht, Platons Ausführungen oft sogar in Details zugrunde. Um ein Beispiel zu geben: In Buch IX der Politeia stellt Sokrates die Frage, ob der Staat unter einem Despoten frei oder versklavt sei, und erhält die Antwort, dass ein Staat unter einem Despoten natürlich versklavt sei.7 Dann fährt er fort: „Wenn der Mensch also dem Staate ähnlich ist, werden wir in ihm dieselbe Ordnung der Dinge finden: eine Seele, die sich in finsterster Knechtschaft abmüht und deren beste Teile versklavt sind, während ein kleiner Teil, der übelste und wahnsinnigste, den Meister spielt. Und genauso wie ein Staat, der von einem Tyrannen unterdrückt wird, nicht tun kann, was er wirklich will, kann auch eine Seele unter ähnlicher Tyrannei nicht tun, was sie als Ganzes wünscht. Gegen ihren Willen von einem starken Verlangen angestachelt, wird sie von Verwirrung und Reue erfüllt sein. Wie der ihr entsprechende Staat ist sie immer von Armut heimgesucht, von Angst geplagt und unzufrieden. Nirgendwo sonst wird es soviel Jammern und Stöhnen und Angst geben wie in einem despotisch regierten Land und in der Seele, die unter der Tyrannei von Trieben und Leidenschaften toll geworden ist.“ Der springende Punkt hier ist, dass eine von Trieben oder Leidenschaften beherrschte Seele genauso tyrannisiert und versklavt wird (unfrei ist) wie ein Staat unter einem Despoten. Dass eine von Vernunft regierte Seele im Gegensatz dazu frei ist, ist die klar beabsichtigte Kehrseite der Medaille. (Und es ist leicht, von dieser Seite der Analogie wieder zum Staat zurückzukehren und zu folgern, dass auch der Staat frei ist, wenn die Vernunft – der Philosophen-König – ihn regiert.)
Gewöhnlich wird die Idee, dass Freiheit Gehorsam gegenüber der Vernunft heißt, Hegel zugeschrieben, was es einfach macht, sie als die Sophisterei eines „Metaphysikers“ zu behandeln, der ja, wie man sich einbildet zu wissen, dazu noch „konservativ“ war. Aber dieser Gedanke lässt sich nicht so leicht aus unseren Köpfen verbannen (genauso wenig wie Hegel übrigens). Zum einen taucht dieselbe Idee schon vorher bei Platon auf sowie bei einer Reihe anderer Denker einschließlich Rousseau, der (dem liberalen Herzen näher stehend als Platon oder Hegel) im Gesellschaftsvertrag lapidar bemerkt: „Seinen Begierden unterworfen zu sein, heißt Sklave sein, während der Gehorsam gegenüber den Gesetzen der Gesellschaft Freiheit bedeutet.“ Wichtiger ist aber noch, dass diese Verbindung zwischen Freiheit und Rationalität mit ihrer eingebauten Garantie, dass Irrationales und Inakzeptables von vornherein nicht als frei gelten kann, für die Macht und die Geschichte der Freiheitsidee wesentlich ist. Diese Annahme, verbunden mit ihrem Gegenstück, dass Freiheit nur die Freiheit ist, vernünftig zu sein, verlieh dieser Idee einen Großteil ihrer Macht und Überzeugungskraft. Ohne diese stillschweigende Übereinkunft wäre es für einen Untertanen viel schwerer gewesen, seinen Anspruch auf Freiheit zu legitimieren, und jeder Herrscher hätte noch mehr gezögert, sie zu gewähren oder für sie zu sorgen, wäre diese Garantie nicht gewesen.
Unsere Vorstellung von Freiheit noch
heute prägend
Das Ausmaß, in dem dieses Konzept immer noch unsere Auffassung von Freiheit beherrscht, lässt sich an der Leichtigkeit ermessen, mit der wir behaupten, Freiheit bedeute natürlich nicht Willkür und ihr Gegenstück heiße selbstverständlich Verantwortung. Dieses und andere ähnliche Klischees könnten sich nicht auf so etwas wie das erste Freiheits-Paradigma berufen, das wir untersucht haben. Wenn Freiheit „Laune“ bedeutet, dann endet sie natürlich nicht da, wo „Willkür“ anfängt, und „Verantwortung“ ist für diese frühere Auffassung nicht Bedingung der Freiheit, sondern ihr Tod. Die zitierten Beteuerungen sind nur stichhaltig, wenn so etwas wie die heutige Auffassung von Freiheit vorausgesetzt wird. Und das gibt uns einen Hinweis, wie umfassend und allgegenwärtig diese Auffassung ist.
Unsere
Alltagserfahrung: Entfremdung von den Affekten
Doch die Wurzeln dieser Auffassung reichen noch tiefer. Sie ist in unsere Alltagserfahrung und viele alltägliche Redensarten verwoben. Kämpft ein Mensch gegen eine Versuchung an und unterliegt (nehmen wir an, er will nicht trinken, trinkt dann aber doch), so betrachten wir ihn ganz selbstverständlich als unter einem Zwang stehend. Wir sagen vielleicht: Er wollte nicht trinken, aber sein Durst war stärker, und der hat ihn dazu gebracht. Das ist eine solch alltägliche Redensart, dass sie uns einfach herausrutscht und überhaupt kein Aufsehen erregt. Das sollte sie aber, denn sie ist eigentlich recht kurios. Wenn wir sagen: „Er wollte nicht trinken, sein Durst hat ihn dazu gezwungen“, dann machen wir aus einer Sache ganz lässig zwei. Wir sprechen von dem Menschen und seinem Durst so, als wäre der Durst etwas Separates. In gewisser Hinsicht tun wir sogar mehr: Da ist ein Mensch, der einen Entschluss gefasst hat und der auch Durst hat. Diese beiden Attribute sind gleichberechtigt. Aber wir beenden dieses Gleichgewicht einfach. Seinen Vorsatz formen wir um in ihn. Er besteht aus nichts als seiner guten Absicht, und dafür erhält er unsere ganze Anerkennung. Den Durst stellen wir dagegen ins Abseits. Er ist etwas Eigenständiges, Schlechtes, mit dem der Mensch konfrontiert wird und das er bekämpft wie der heilige Georg den Drachen. Man könnte nicht von „Zwang“ oder „Unterliegen“ sprechen, wenn es diese Sichtweise nicht gäbe.
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