Dem könnte man hinzufügen, dass das Verstoßen gegen die Rationalität auch noch in anderer Hinsicht eine nicht mehr zu übertreffende Bedingung darstellt: Man könnte schiere Vernunft als letzten und am wenigsten lästigen von allen „Zwängen“ ansehen; sich sogar dagegen zu erheben stellt eine Art Maßstab dar. Wenn eine Handlung weniger ist als frei, bloß weil ein Grund für sie vorhanden ist, was zählt dann noch? Nur eine Handlung, die sich aus dem Nichts materialisiert. Es ist, als könnte es keinen wie auch immer gearteten Kontext geben, als könnte in diesem Sinne eine Handlung nur „frei“ sein im grenzenlosen Akt der Schöpfung – als Gott sprach: Es werde Licht.
Frage nach dem Lebensgefühl eines solchen Menschen
Diese Version der Freiheit provoziert offensichtlich zahlreiche Fragen, aber für den Moment wollen wir außer Acht lassen, wie sich dieses Konzept gegenüber anderen, konkurrierenden Behauptungen über die Freiheit irgendwie rechtfertigen ließe oder ob jemand dem Ausleben blindester und störrischster Launenhaftigkeit ernsthaft solch einen herausragenden Wert beimessen würde. Wir werden uns stattdessen auf einen einzigen Punkt konzentrieren: Welche Erfahrung bringt diese Idee der Freiheit mit sich? Was für eine generelle Beziehung zur „Vernunft“ muss jemand haben, wenn dieses Konzept für ihn stimmig sein soll? Anders gesagt, wie muss er seine Gedanken erleben, die ihm in einem bestimmten Fall einen „vernünftigen“ oder „umsichtigen“ Weg suggerieren, wenn das Einschlagen dieses Weges dann „unfrei“ ist, bloßer Gehorsam und Unterwürfigkeit?
Entfremdete Vernunft
Die Frage stellen heißt sie beantworten. Die Behauptung des Untergrundmenschen, dass man gegen die Vernunft handeln muss, um frei zu sein, impliziert, dass er seine Rationalität als etwas ihm Fremdes erlebt. Ich meine nicht, dass er buchstäblich glaubt, seine Gedanken seien die eines anderen (das wäre Wahnsinn), aber wenn er sich einem Zwang beugt, wenn er seinen Gedanken gehorcht, dann muss da eine gewisse Distanz existieren, ein Gefühl, dass sie kein intimer Teil seiner Person sind. Seine Vernunft kann ihn nur dann unfrei machen, wenn sie nicht zu seinem eigenen wahren Selbst gehört. Irgendwo muss da eine gewisse Entfremdung herrschen. Er muss seine rationalen Gedanken irgendwie als „von woanders her kommend“ empfinden; als „Objekte“ für ein „Subjekt“, als „Dinge“, denen er begegnet und mit denen er konfrontiert ist.
Und das trifft auf Dostojewskijs gedemütigten, boshaften, unproduktiven kleinen Beamten zu. In allen möglichen Situationen gibt ihm seine Vernunft solide Ratschläge: sich nicht in die Abendgesellschaft seiner Freunde zu drängen, wo er unerwünscht ist, wo er auf groteske Weise fehl am Platz wäre, peinlich und die Zielscheibe zahlloser Witze; seine fortgesetzten Überlegungen aufzugeben, wie er sich an dem Offizier rächen könnte, der ihn im Billardsalon „in seine Schranken verwiesen“ hat. Aber es ist immer dasselbe. Er erlebt diese „Vernünftigkeit“ als einen weiteren Zügel, der ihm angelegt werden soll (im Grunde die niederträchtigste aller Fesseln, denn sie ist der Feind im eigenen Lager); und so hört er ihr fasziniert zu, rennt dann jedoch mit aller Kraft gegen sie an, durchbricht sie und tut genau das, vor dem er gewarnt worden ist. In seiner Sicht der Dinge sind diese rationalen Ratschläge letztendlich nicht seine Fürsprecher. Sie verkünden das Interesse der Gesellschaft oder etwas noch Vageres, die Urteilssprüche von Recht und Ordnung. Mächte, die ihn überwältigen, die seine Individualität auslöschen wollen, sprechen zu ihm mit einer Stimme, die als seine eigene getarnt ist. Damit sind sie Diktate und Zwangsmaßnahmen, die nicht von ihm ausgehen, sondern ihm aufgedrängt und aufgezwungen werden. Sie zu befolgen heißt, immer noch an der Nase herumgeführt zu werden. Seine Vernunft kann ihm höchstens zeigen, welche unpersönlichen Überlegungen sich wie beeinflussen, gegenseitig aufheben oder die Oberhand behalten. Würde er im Einklang mit ihr handeln, so würde er nur ihre neutralen und gefühllosen Schlussfolgerungen ausführen. Er wäre weiterhin nichts als anonyme Passivität, eine träge Masse, die sich dem Druck beugt.
Es wäre falsch, die Erfahrung des Untergrundmenschen als bizarr und unglaubhaft einzustufen und zu meinen, etwas so Seltsames könnte in Bezug auf das Normale und Vertraute kaum aussagekräftig sein. Im Gegenteil: Es geht gerade darum, dass er auf eine ganz ausgeprägte Art und Weise ein Syndrom verkörpert, das in abgeschwächter Form jeder von uns kennt und das alltäglich, ja trivial geworden ist. Eine sehr alltägliche Situation, in der auch wir unser Denken als einen objektiven Prozess erleben, der außerhalb von uns stattfindet, ereignet sich beispielsweise, wenn wir nach einer Party oder einer Prüfung wach liegen und nicht schlafen können, weil jetzt, um drei Uhr morgens, unser Geist mit all den schlagfertigen Erwiderungen und geistreichen Antworten aufwartet, die er uns vorher vorenthielt. Wenn unsere Gedanken, verliebt in ihre eigene Produktivität, immer aufgeregter weiterplappern und es auf vier Uhr zugeht, dann ist es nur natürlich, wenn wir uns gegen sie stellen und schimpfen: „Still jetzt!“ Bald könnten sie auch von einem Plattenspieler unterm Bett kommen, der immer weiterläuft, und während das Geschwätz zu verebben scheint, schlafen wir vielleicht ein.
Extreme Form
einer alltäglichen Erfahrung
In so einer Nacht erfahren auch wir unsere Gedanken als Ereignisse, die wir beobachten, die in einer gewissen Distanz stattzufinden scheinen und die im Grunde nicht von uns selbst gedacht werden. Und das ist keineswegs ungewöhnlich oder seltsam. Etwas ganz Ähnliches passiert jedes Mal, wenn wir Schwierigkeiten haben, uns zu konzentrieren. Auch dann scheinen unsere Gedanken ihre eigenen Wege zu gehen und nicht unserer Kontrolle zu unterliegen.
Weitere Beispiele
Aber es gibt auch extremere und einprägsamere Fälle: Nehmen wir die letzten Sekunden, bevor Sie zum ersten Mal mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug abspringen. Sie haben jede Bewegung viele Male geübt und schon vor Tagen den Entschluss gefasst, nicht im letzten Moment noch einen Rückzieher zu machen, und alle wahrscheinlichen psychischen Reaktionen sind vorher schon einmal durchgegangen worden. Wenn Ihr Geist, wie vorauszusehen, in den letzten Minuten des Anfluges wild flattert wie ein verängstigter Vogel, dann distanzieren Sie sich vielleicht auch von ihm. Vielleicht hören Sie ihm ungläubig und ungerührt kurz zu, aber dann schließen Sie die Tür seiner kleinen Zelle und begeben sich in die Obhut Ihres Körpers, damit dessen trainierte Reflexe das Kommando übernehmen können. Sie springen, fühlen, wie Sie fallen, und kommen erst wieder zu Ihrem Geist zurück, wenn Sie mit einem dumpfen Geräusch landen.
Betrachten wir zwei weitere Beispiele: Sie schieben Ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt, müde von einem anstrengenden Tag, und hartnäckig dudelt in Ihrem Kopf immer wieder der Werbespruch „Coke macht mehr draus“, bis Sie sich, zermürbt, plötzlich vor dem Kühlregal wiederfinden und bereits nach der entsprechenden Dose greifen. Oder, um es noch klarer zu machen: Stellen Sie sich vor, Sie wären hypnotisiert worden und führten jetzt nach dem Erwachen den Befehl aus, sechs Gläser Wasser hintereinander zu trinken, und nehmen Sie dabei an, man habe Sie nur zum Gedanken an diese Handlung aufgefordert und nicht, tatsächlich durstig zu sein.
Damit sollte die wesentliche Parallele deutlich hervortreten. In beiden Situationen würden Sie – wie der Mann aus dem Untergrund – Ihre Gedanken nicht als welche erleben, die zur Gänze von Ihnen selbst stammen, und Sie würden auch erkennen – ebenfalls wie der Mann aus dem Untergrund –, dass Sie „gegen sie“ handeln müssten, um frei zu sein.
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