Als wir damals vom Retreat zurück zum Flughafen fuhren, schlug ich (Chris) Kristin vor, sie solle ein Programm entwickeln, mithilfe dessen man Selbstmitgefühl lehren könne. »Was, ich ?«, erwiderte sie. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Workshop geleitet. Du hast schon überall auf der Welt Seminare gehalten und lehrst seit Jahren Achtsamkeit. Du solltest das tun.« In diesem Moment machte es klick: Wir würden es gemeinsam machen!
Ich (Kristin) kam erstmals im Jahre 1997 mit der Vorstellung von Selbstmitgefühl in Berührung, und zwar während meines letzten Studienjahres im Graduiertenprogramm für Human Development an der University of California in Berkeley. Ich strengte mich an, um meinen Doktorgrad zu erlangen, und erlebte den ganzen Stress, der gewöhnlich mit dem Dissertationsprozess einhergeht. Zudem war kurz zuvor meine erste Ehe gescheitert; und obwohl ich in einer neuen Beziehung lebte, kämpfte ich weiterhin gegen Scham und Selbstzweifel an. Schon als kleines Kind hatte ich begonnen, mich für östliche Spiritualität zu interessieren, was sicher auch damit zu tun hatte, dass ich bei einer sehr aufgeschlossenen Mutter nahe Los Angeles aufgewachsen war. Aber ich hatte Meditation nie wirklich ernst genommen und mich auch nicht näher mit der buddhistischen Philosophie beschäftigt.
Wie dem auch sei, in diesem letzten Studienjahr begann ich amerikanische buddhistische Klassiker zu lesen, beispielsweise Sharon Salzbergs Buch Metta-Meditation – Buddhas revolutionärer Weg zum Glück und von Jack Kornfield Frag den Buddha – und geh den Weg des Herzens . Damit nahm mein Leben eine neue Wendung und war nie mehr dasselbe wie früher.
Obwohl mir bekannt war, dass Buddhisten viel über die Bedeutung von Mitgefühl sprachen, kam ich nie auf die Idee, dass es genauso wichtig sein könnte, Mitgefühl mit sich selbst zu haben. Bei meinem ersten Abend in einer örtlichen Meditationsgruppe sprach die Meditationsleiterin darüber, wie wesentlich es sei, mit sich selbst und anderen Mitgefühl zu haben – dass wir uns selbst genauso viel Freundlichkeit und Verständnis entgegenbringen müssten wie den Menschen, die uns am Herzen liegen. Meine erste Reaktion war: »Wie bitte? Soll das etwa heißen, es ist uns erlaubt , nett zu uns selbst zu sein? Ist das nicht egoistisch?« Doch schon bald wurde mir klar, dass man sich selbst lieben muss, um wirklich mit anderen verbunden zu sein. Wenn man sich ständig verurteilt und kritisiert, während man versucht, liebevoll mit anderen umzugehen, zieht man künstliche Grenzen und macht Unterschiede, die letztendlich nur zu Gefühlen des Getrenntseins und der Isolation führen. Das ist das Gegenteil von Einssein, Verbundenheit, universaler Liebe – den höchsten Zielen der meisten spirituellen Wege, ganz gleich, welcher Tradition sie entspringen. Also versuchte ich es, und meine neu entdeckte Praxis des Selbstmitgefühls half mir, den Widrigkeiten meines Lebens kraftvoller und anmutiger zu begegnen.
Im Anschluss an meine Promotion arbeitete ich zwei Jahre als Postdoktorandin bei Susan Harter, einer herausragenden Wissenschaftlerin, die an der University of Denver über Selbstwertgefühl forschte. Ich wollte mehr darüber wissen, wie Menschen ihr Selbstbild und ein Selbstwertgefühl entwickeln. Bald erfuhr ich, dass die Psychologie allmählich davon abkam, ein hohes Selbstwertgefühl als ultimatives Merkmal für geistige Gesundheit zu betrachten. Obwohl Tausende von Artikeln über die große Bedeutung des Selbstwertgefühls geschrieben worden waren, begannen die Forscher nun auf die Fallen hinzuweisen, in die Menschen tappen können, wenn sie versuchen, ein hohes Selbstwertgefühl zu erreichen und aufrechtzuerhalten: Narzissmus, ständige Vergleiche mit anderen, Wut als Abwehrhaltung des Egos, Vorurteile und so weiter. Ich erkannte, dass Selbstmitgefühl die perfekte Alternative zum gnadenlosen Streben nach einem hohen Selbstwertgefühl ist. Warum? Weil Selbstmitgefühl denselben Schutz gegen Selbsthass bietet wie ein hohes Selbstwertgefühl – aber ohne das Bedürfnis, sich selbst als perfekt oder überlegen zu betrachten.
Im Jahr 1999 bekam ich eine Stelle als Assistenzprofessorin für Entwicklungspsychologie an der University of Texas in Austin und traf bald die Entscheidung, über Selbstmitgefühl zu forschen. Zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht, in dem Selbstmitgefühl definiert wurde, geschweige denn darüber geforscht. Also entschloss ich mich, unbekanntes Gebiet zu betreten, und begann mit der Arbeit, die inzwischen zu meiner Lebensaufgabe geworden ist.
Welche Kraft im Selbstmitgefühl steckt, dämmerte mir allerdings erst einige Jahre später, als mein Sohn Rowan 2007 die Diagnose Autismus bekam; und ich glaube, es ist der Praxis des Selbstmitgefühls zu verdanken, dass ich während Rowans früher Kindheit geistig gesund blieb. Aufgrund ihrer intensiven sensorischen Erfahrungen neigen autistische Kinder zu heftigen Wutanfällen. Das Einzige, was die Eltern eines solchen Kindes in diesen Momenten tun können, ist, dafür zu sorgen, dass das Kind sicher ist, und ansonsten abzuwarten, bis der Sturm vorüber ist. Wenn mein Sohn im Supermarkt ohne ersichtlichen Grund anfing, zu schreien und um sich zu schlagen, und fremde Menschen mir unweigerlich vorwurfsvolle Blicke zuwarfen, blieb mir nichts anderes mehr übrig, als Selbstmitgefühl zu praktizieren.
Inmitten meiner Verwirrung, Scham und Hilflosigkeit konnte ich nichts anderes tun, als mich selbst zu beruhigen und zu trösten und mir selbst die emotionale Unterstützung zu geben, die ich so dringend brauchte. Selbstmitgefühl half mir allmählich, über Selbstmitleid und Wut hinauszugehen, und es ermöglichte mir auch, einigermaßen ruhig zu bleiben und weiterhin liebevoll mit Rowan umzugehen – trotz des intensiven Stresses und der Verzweiflung, die unweigerlich immer wieder aufkamen. Natürlich war ich manchmal trotzdem frustriert oder überfordert, aber ich stellte fest, dass Rowan jedes Mal, wenn ich mich über ihn aufregte, unweigerlich selbst noch aufgeregter wurde. Andererseits beruhigte er sich jedes Mal, wenn ich präsent und bewusst genug war, mir für das, was ich durchmachte, Selbstmitgefühl entgegenzubringen. Ich stellte außerdem fest, dass ich, wenn ich freundlich mit mir umging, mehr emotionale Ressourcen zu Verfügung hatte, um geduldig und mitfühlend mit Rowan umzugehen. Schnell entdeckte ich, dass das Praktizieren von Selbstmitgefühl eine der effektivsten Möglichkeiten war, meinem Sohn und mir selbst in stressigen und belastenden Situationen zu helfen.
Auf dem Gebiet der Psychologie ist es nicht ungewöhnlich, dass sich neues Wissen auftut, wenn Psychologen Lösungen für ihre eigenen Probleme finden. Auf diese Weise kam auch Chris mit Selbstmitgefühl in Berührung.
Ich (Chris) hatte bereits seit den späten 1970er-Jahren Meditation praktiziert, als ich beschloss, mir eine einjährige Auszeit zu nehmen, um kreuz und quer durch Indien zu reisen, Heilige, Weise, eingeborene Heiler und Meditationsmeister zu besuchen. Ich erlernte auch die Achtsamkeitsmeditation in einer Einsiedelei in Sri Lanka. Danach besuchte ich die Graduate School, promovierte in klinischer Psychologie und schloss mich einer Studiengruppe über Achtsamkeit und Psychotherapie in Cambridge, Massachusetts, an. Aus dieser Studiengruppe ging das Institute for Meditation and Psychotherapy hervor, und wir veröffentlichten schließlich ein populärwissenschaftliches Buch Achtsamkeit in der Psychotherapie (Germer, Siegel und Fulton, 2013), in dem dieses neue Therapiemodell vorgestellt wurde.
Die Veröffentlichung des Buches und das große allgemeine Interesse an Achtsamkeit in der Psychotherapie führten dazu, dass man mich öfter aufforderte, öffentliche Vorträge zu halten – seit jeher eine Quelle der Angst und Panik für mich. Obwohl ich als Erwachsener seit Langem regelmäßig meditierte und hin und wieder in Therapie war, wurde ich weiterhin durch meine lähmende Angst vor öffentlichen Auftritten als Redner beeinträchtigt. Kurz vor jedem Vortrag begann mein Herz zu rasen, meine Hände wurden feucht, und es fiel mir zunehmend schwer, klar zu denken. Ich versuchte wirklich alles, um dieser Angst Herr zu werden: Exposition, Meditation, achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Strategien, Zwerchfellatmung, anstrengende sportliche Betätigung, Betablocker – was Sie wollen –, aber nichts funktionierte.
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