Er öffnete leicht den Mund und sein Atem kitzelte meine angespannten Lippen. „Weißt du, was ich jetzt gerne tun würde?“, fragte er, während sein Daumen in kreisförmigen Bewegungen über meine Wange strich.
„Was denn?“, meine Stimme überschlug sich fast.
Er legte den freien Arm um meine Taille, um mich noch ein Stück näher an sich heranzuziehen. „Ich würde dich sehr gerne … berühren.“
Ich schluckte. „Das machst du doch schon.“
„Stimmt.“
Mein Herz begann zu rasen, als er den Kopf leicht schräg legte und dann stockte es, als er mich losließ. „Wir sollten die Zeit sinnvoller nutzen.“
Verwirrt sah ich ihn an, dann wurde ich wieder rot und nickte.
„Was du noch nicht weißt, ist, dass Felicity und ich bisher die einzigen Mutanten im Lager waren, die M-1 haben“, begann Luan und setzte sich auf den Stuhl, auf dem zuvor Dexter gesessen hatte. „Jetzt hat Amber Notker eine ziemlich sichere Spur, dass du es auch hast, und das ist wie zehn Geburtstage auf einmal.“
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Bettgestell und begann, an meinen Haarspitzen zu fummeln. „Das geht Felicity natürlich gewaltig gegen den Strich.“
„So kann man es auch sagen.“
„Und warum ist sie hier?“, wollte ich wissen.
Er hob eine Braue. „Das weiß ich selbst nicht. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sie mich sehen wollte. Immerhin kennen wir uns seit knapp sechs Jahren und haben in der Zeit einiges durchgemacht. Sie ist zurzeit noch in Abteil 10, aber wird wahrscheinlich bald, genau wie ich, in den Außendienst gehen.“
Mein Gehirn war immer noch komplett überfordert. „Und dein Bruder? Wo ist er?“, fragte ich und ließ meine Haare in Ruhe.
Luan holte tief Luft. „Zurzeit in Abteil 9. Er hat kein M-1 und wird deshalb Tag für Tag von den Red Eyes erniedrigt. Er … er war der Grund, warum ich der Sache zugestimmt habe, dich hierher zu bringen. Hätte ich mich geweigert, für die Red Eyes zu arbeiten oder wäre ich nicht mit dir zurückgekommen, hätten sie ihm schlimme Sachen angetan“, sagte er verbissen und voller Abscheu.
Ich riss die Augen auf. Verstand ich das gerade richtig?
„Aber dann ist ja alles gar nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür, dass ich jetzt hier bin. Du wolltest nur deinen Bruder beschützen. Warum hast du das nicht gleich gesagt?“
Er schnaubte. „Weil es nichts geändert hätte. Eigentlich sollte ich froh sein, dass du mich gehasst hast. Das machte alles einfacher.“
„Ach ja?“, schnappte ich und sah ihn wütend an. Nur er war in der Lage, meine Gefühle von jetzt auf gleich explodieren zu lassen.
Zaghaft klopfte jemand an die Tür und ich hob den Kopf. „Ja?“
Die Tür wurde geöffnet und Lou kam herein. Logan blieb vor dem Zimmer stehen und verschwand aus meinem Sichtfeld, als die Tür zufiel, doch ich wusste, dass er immer noch direkt davorstand.
Besorgt schob ich die Decke zurück und erschauderte, als meine nackten Füße den kalten Boden berührten. Dann stand ich entschlossen auf und eilte auf Lou zu. Sie sah vollkommen erschöpft aus. Ihre Haare waren wieder fettig und hingen strähnig vor ihrem blassen Gesicht. Über den braun-grünen Augen lag ein matter Schimmer, ihre Lippen waren trocken und aufgeplatzt.
„Was ist passiert?“, fragte ich und führte sie zu ihrem Bett.
Lou fasste sich an die Kehle, als würde es ihr Schmerzen bereiten, zu sprechen. „Wir können nicht zusammen in Abteil 2 untergebracht werden. Ich muss hier bleiben.“
„Ich weiß“, murmelte ich und drückte ihre Hand. Mit gläsernem Blick sah sie zu mir auf. „Ich soll nur ein paar Sachen holen, aber dann muss ich wieder in die obere Etage.“
Ich bat sie, sich auszuruhen, und verschwand im Bad, um die Tasche mit dem Foto ihrer Mom zu holen. Als ich kurz in den Spiegel sah, erblickte ich hinter mir Luan. „Ich gehe dann mal …“
„In Raum 11“, beendete ich vielsagend seinen Satz. Er seufzte nur und verließ das Zimmer. Ich trat wieder zu Lou und reichte ihr die Tasche. „Ich habe das Foto gesehen“, sage ich leise. „Die Frau darauf ist deine Mom?“
Sie nickte müde und kramte, bis sie das Papier gefunden hatte und sich an die Brust presste. „Sie hieß Amy.“
„Hieß?“, wiederholte ich, während mir eisige Schauder über den Rücken jagten.
„Mom ist an einer Lungenentzündung gestorben. Ist schon etwas länger her.“
„Lou, das … das tut mir so leid.“
Sie verzog den Mund. „Das ist lieb, ändert aber nichts.“
Ich nickte stumm und umarmte sie lange und fest.
Als sie von Logan wieder in die obere Etage begleitet wurde, kam Dexter zurück. Wir gingen zusammen essen, unterhielten uns aber kaum. Danach musste ich wieder in den Behandlungsraum und Amber Notkers Miene nach zu urteilen, gab es etwas Tolles zu erzählen.
„Bevor ich die Neuigkeiten verkünde“, trällerte sie und wurde etwas ernster. „Nach dem kleinen Zwischenfall im Gesellschaftsraum hast du keine Schmerzen mehr?“
Ich rieb mir die linke Schulter, sie tat aber kaum noch weh.
„Schön, schön“, meinte die Ärztin. „Und wegen deiner Mom: Wenn du umquartiert wurdest, kannst du sie vielleicht heute Abend noch sehen.“
Ich sah sie erstaunt an und mein Herz begann zu rasen. „Danke!“
Amber Notker machte eine wegwerfende Handbewegung und räusperte sich. „Luan kann jetzt leider nicht hier sein, da er zusammen mit Felicity an einem neuen Auftrag arbeitet, aber er wird es ebenfalls noch heute erfahren.“ Sie verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und schien kaum stillhalten zu können. Es war seltsam, sie in so einer Situation zu sehen.
„Wir haben endlich unsren dritten Achat!“, rief sie laut und drehte sich einmal, was fast albern aussah. Außer ihr und mir war nur noch Dexter im Raum. Als ich ihm einen verwirrten Blick zuwarf, blickte er mich nur ehrfürchtig an.
„Das heißt jetzt was genau?“, versuchte ich die Lage zu erfassen.
Sie strahlte. „Mutanten mit M-1 bezeichnen wir als Achate. Sie sind unglaublich vielfältig und bunt, eben wie die außergewöhnlichen Steine“, erklärte sie. „Und du bist ab heute die Dritte im Bunde. Luan, Felicity und du, ihr drei werdet ein unschlagbares Trio, eines, das keines der acht Völker je gesehen hat.“
Ich sah sie regungslos an. Dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was hier vor sich ging, schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Luan und ich wäre wahrscheinlich gerade so aushaltbar. Aber Felicity? Das könnte umständlich werden. Es war verrückt, denn ich kannte sie noch keine 24Stunden und hatte kaum mit ihr geredet, aber dieses Mädchen war auch so schon anstrengend genug.
„Aber wir müssen bei der Sache bleiben“, mahnte sich Amber Notker selbst und hob die Brauen. „Dexter wird dich jetzt in Abteil 2 begleiten und dir dein neues Zimmer zeigen. Da Lou leider noch in Abteil 1 bleiben muss, wirst du dir erstmal mit David eins teilen müssen.“
David? Erst nach kurzer Überlegung fiel mir der Typ mit den violett-grauen Augen wieder ein, der mit Felicity zusammen an einem Tisch gesessen hatte.
„Und meine Mom?“, hakte ich nach. Amber Notker spitzte die Lippen.
„Wie gesagt, wahrscheinlich wird sie heute Abend auf dein Zimmer gebracht.“
Nachdem sie Dexter die neuen Schlüssel zugesteckt hatte, führte er mich zu meinem alten Zimmer zurück, damit ich meine Sachen packen konnte. Ich beeilte mich und verließ das Zimmer mit einem letzten Blick auf Lous Bett. Mir war plötzlich kalt geworden und das lag nicht an dem dünnen T-Shirt. Dexter führte mich eine gefühlte Ewigkeit durch die verzweigten Gänge und schließlich gelangten wir an einen Tunnel, der von zwei Wärtern versperrt wurde. Er zeigte die Schlüssel, die ihm Amber Notker gereicht hatte, und sagte ausdruckslos: „Achat.“
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