Weller kommt beispielsweise im Rahmen der Partner 4 Studie zu dem Schluss, dass sexuelle Missbrauchshandlungen in der Familie folgenschwerer seien, „.[…] während erlebte Grenzüberschreitungen im Internet i.d.R. nicht traumatisieren […]“ 183. Gleichzeitig hat die Studie aber auch herausgearbeitet, dass der häufigste Ort für sexuelle Übergriffe sowohl bei weiblichen (45 Prozent) als auch männlichen (14 Prozent) Opfern das Internet ist, wobei die Familie den seltensten Viktimisierungsort darstellt (5 Prozent der Mädchen und nur 1 Prozent der Jungen) 184. Eine qualitative Interviewstudie von Whittle/Hamilton-Giachritsis und Beech mit acht von Cybergrooming betroffenen Jugendlichen kommt zu dem Schluss, dass die Viktimisisierungserfahrungen von Opfern von Cybergroomern geringer sein sollten als bei klassischen Missbrauchsdelikten, die rein im physischen Raum stattfinden 185. Gleichzeitig ergab ihre Studie, dass die Belastungserscheinungen der Opfer wie psychologische Auffälligkeiten, Scham und Aggression gleich sind 186. Zwei Opfer wiesen zudem Tendenzen zur Selbstverletzung auf. Im Resultat sehen die Autoren die Notwendigkeit, bei onlinebasierten Delikten dieselbe Sorgfalt anzuwenden und den Opfern eine entsprechende betreuende Begleitung zu ermöglichen, um sekundäre und tertiäre Viktimisierungen zu vermeiden 187. Johnsons Studie von 2017, bei der 5.839 schwedische Schüler zu ihren onlinebasierten Viktimisierungserfahrungen befragt wurden, kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung 188: „Our report shows that online abuse where the child hasn’t met the perpetrator can have just as serious consequences as abuse that occurs offline“ 189. Interessanterweise wird explizit darauf verwiesen, dass insbesondere das Wissen um sexualisierte Missbrauchsabbildungen – beispielsweise, weil die Opfer sie selbst angefertigt und übersendet haben oder weil sie im Rahmen von Webcam-Missbrauch selbst angefertigt wurden – „has negative effects on the mental health of the young people“ 190. Hierbei muss diese Situation klar als eine Form der wiederkehrenden Viktimisierung erfasst werden, da Opfer im ungünstigsten Fall den eigenen Missbrauch beispielsweise im Internet wieder erleben müssen. Weiler spricht in diesem Zusammenhang von einem doppelten Missbrauch 191. Bedingt durch die Vielzahl möglicher Folgeviktimisierungen erscheint es naheliegend von einer multiplen Viktimisierung zu sprechen. Auf dieses Risiko durch bei Cybergrooming entstandene kinderpornografische Schriften wird auch bei der Kommission zur Reform des Sexualstrafrechts hingewiesen, wo es heißt, dass „[…] kinderpornographisches Material für immer im Internet abrufbar sein“ 192kann. Auch Webster et al. kommen im Rahmen des European Online Grooming Projects zu einer ähnlichen Erkenntnis: „[…] The psychological impact of these techniques may cause additional psychological damage over and above the sexual abuse or near-abuse experiences themselves. This can result in life long levels of mistrust and damaged self-concept impacting on future relating ability and attachment“ 193.
In einer Gesamtbetrachtung sprechen einige Argumente für eine geringere Auswirkung von Viktimisierungen durch onlinebasierte Sexualdelikte im Verhältnis zum physischen Erleben mit einem räumlich anwesenden Täter. Es gibt aber auch Argumente für, wenn überhaupt, nur geringe Unterschiede bei den Auswirkungen. So könnte argumentiert werden, dass sich ein Kind bei einem räumlich anwesenden Täter dem Missbrauch kaum physisch entziehen kann: weil der oder die Täter einfach körperlich überlegen sein können, aber auch weil diese vor Ort bedingt durch eine eventuell gegebene Machtposition psychischen Einfluss nehmen können. Andererseits erscheint es naheliegend, dass gerade Cybergrooming-Prozesse bei denen auch Nackt- und pornografische Medien des Kindes angefertigt worden sind, eine starke Viktimisierungserfahrung für die Opfer darstellen können, v. a. das Wissen um das Vorhandensein der entsprechenden Medien. Die zitierten Studien haben ergeben, dass auch eine rein kommunikative sexualisierte Einwirkung auf ein Opfer eine entsprechende Viktimisierungserfahrung darstellen kann. Zwar könnte argumentiert werden, dass die Opfer einfach den Kontakt abbrechen könnten, dies verkennt aber die teilweise vorhandenen psychischen Abhängigkeitskonstrukte und zudem, dass bei vorhandenen kompromittierenden Medien das Opfer in einer Erpressungssituation steht, die einen Rückzug erheblich erschwert. Daher erscheint es zu einfach zu sagen, der klassische Missbrauch wiege in den Auswirkungen schwerer. Dies könnte auch zu einer Verharmlosung des Phänomens führen und zu einem nicht konstruktiven Vergleich beider Missbrauchsformen. Vielmehr bedarf es weiterer Forschungen, die sich dieser Thematik explizit und nicht als Nebenprodukt anderer Erhebungen annehmen.
103 Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss 2002, Ein Programm für den Schutz von Kindern im Internet, S. 27.
104BT Drs. 15/350, S. 17
105Dies ist dahingehend relevant, dass in Deutschland Cybercrime den Begriff der Informations- und Kommunikationskriminalität (IuK) weitestgehend abgelöst hat. Vgl. Neubert 2017, Cybercrime als polizeiliche Herausforderung, S. 220. Dabei werden Angriffe gegen technische Infrastrukturen und Computersysteme als Cybercrime im engeren Sinne (i.e.S.) und alle Delikte die über digitale Medien erfolgen als Cybercrime im weiteren Sinne (i.w.S.) erfasst. Dies ist eine sehr weit gefasste Definition, da eine Vielzahl an Delikten über digitale Medien geplant, durchgeführt oder auch erst vorgenommen werden kann. Entsprechend kann auch eine Debatte über die Gültigkeit des Begriffes verzeichnet werden. Cybergrooming würde zudem unproblematisch als Cybercrime i.wS. erfasst werden. Vgl. Denef/Rüdiger 2013, Soziale Medien – Muss sich die Polizei neu ausrichten? S. 7.
106In einer Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss wird explizit „Cyber-Grooming“ als sexuelle Belästigung von Kindern aufgeführt. Vgl. Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss 2012, Verantwortlicher Umgang mit sozialen Netzwerken und Verhinderung der durch soziale Netzwerke verursachten Probleme, Punkt. 3.12.
107 Wagner/Vieth 2016, Was macht Cyber?, S. 214.
108Übersetzt würde der hier auch verwendete Begriff des „Sexual Child Grooming“ alle Formen des Offline und Online Groomings erfassen. Wachs 2014, Cybergrooming – Erste Bestandsaufnahme einer neuen Form sexueller Onlineviktimisierung, S. 1 ff.
109 Martellozzo 2013, Online child sexual abuse, S.10 ff. Ost 2009, Child pornography and sexual grooming, S. 170; Webster et al. 2012, Final Report, S. 2.
110 Wolak et al. 2008, Online „Predators” and Their Victims, S. 111.
111 Wall 2007, Cybercrime, S. 125.
112 BK 2016, Jahresbericht Cybercrime, S. 34; Fontanive/Simmler 2016, Gefahr im Netz, S.485; Huerkamp 2015, Wenn der Prinz ein Frosch ist, S.142; Laubenthal 2012, Handbuch Sexualstraftaten, RN. 476; Schönke/Schröder/Eisele 2014, Strafgesetzbuch Kommentar, § 176 RN. 14 a; Wachs 2014, Cybergrooming – Erste Bestandsaufnahme einer neuen Form sexueller Onlineviktimisierung S. 1 ff.
113 Katzer 2007, Gefahr aus dem Netz, S. 14 ff.; Paljakka 2018, Bullying als kinderrechteverletzende Praxis, S. 1 ff.
114 Marx 2017, Diskursphänomen Cybermobbing, S. 22.
115Zum Begriff und den Kontext mit Aggressionen in der Schule. Smith et al. 1999, The Nature of School Bullying, S. 1 ff.
116Die Begrifflichkeiten Cybermobbing und Cyberbullying werden teilweise synonym verwendet. Dabei wird im englischen Sprachraum Bullying eher auf Kinder und Jugendliche bezogen - der Bully als klassischer Schulrowdy. Mobbing wird hierbei eher in der Erwachsenen- und teilweise Arbeitswelt verwendet. Im deutschsprachigen Raum wird diese Unterscheidung zwischen Kinder/Jugendliche und Erwachsene nicht gemacht. Hierzu Marx 2013, Virtueller Rufmord, S. 237 ff.
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