Ich bemühte mich, ihr zu erklären, dass ich wirklich wissen wolle, was wichtiger sei, dass ich mir eigentlich nichts anderes wünschte. Ich sah ihr Zögern, manchmal antwortete sie, die Familie sei wichtig. Aber sie hasste ihre eigene Mutter, die jeden Tag bei ihr anrief. Ich hörte, wie sie log, ihre Mutter schnell abfertigte, nichts von unserem wahren Alltag erzählte. Sie redete niemals mit ihrem Vater, ihrer Schwester, ihrem Bruder. Meine Mutter hatte auch keine Freundinnen; sie sagte, das ende immer im Drama, weil allen Leuten nur daran gelegen sei, gut dazustehen und einem dann das Messer in den Rücken zu stoßen. Ich hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, aber die angewiderte Grimasse meiner Mutter reichte, und mit dem Thema war Schluss. Um das Haus herum war die Welt genauso widerwärtig. Die Nachbarin zur Linken war ein schizophrenes Ungeheuer, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Die Nachbarin zur Rechten, laut meiner Mutter geistig zurückgeblieben, war noch furchterregender. Ein Stück weiter lebten die Tratschtante und ihre elefantöse Nachbarin, die ihrerseits mit niemandem redete. Es gab auch »die Engländer«, eine einzige Familie im ganzen Viertel, denen mangelnde Sauberkeit unterstellt wurde, weil sie sich nicht um ihren Rasen kümmerten. Meine Mutter sagte, das sei eine Frage der Kultiviertheit, wahrscheinlich kämen sie aus Ontario, wo sich keiner um das Unkraut auf seinem Grundstück kümmerte, und im Westen des Landes sei alles noch schlimmer.
Ich sollte begreifen, dass es woanders nicht besser war.
Die Nachricht von Olivias Schwangerschaft schlug schlimmer in meine Jugend ein als eine Atombombe.
Ich hörte sofort auf, ihre Platten zu hören. Ich rollte die Poster von ihr zusammen und verstaute sie hinter meinen Schuhen, räumte meine Fotosammlung ins oberste Fach meines Schranks. Und dann las ich ein ganzes Jahr nichts als Horror – sämtliche Romane von Stephen King und Clive Barker. Ich kleidete mich ausschließlich in Schwarz. Vielleicht war das Liebeskummer. Oder Trauer.
Es dauerte, bis ich begriff, dass für mich Olivia und Kinderkriegen nicht zusammenpassten. Dass sie Mutter werden würde, so wie meine es war. Und, davon war ich überzeugt, ebenso traurig wie meine Mutter. In Wahrheit war mir nie der Gedanke gekommen, dass Olivia Kinder kriegen würde. Und mir war auch nie klar gewesen, dass sie praktisch genauso alt war wie meine Mutter, nur ein paar Tage jünger. Olivia gehörte zu den Fabelwesen, den Märchengestalten; ich betrachtete sie nicht als Mensch. Eher als Göttin. Besser noch: als fiktive Figur.
Ihre bestürzende Menschlichkeit machte mich fertig.
Eine Woche später ging ich in das Postergeschäft im Einkaufszentrum, wo sich riesige Plakate von Hollywood-Mythen stapelten, Rocky, Charlie Chaplin, James Dean, Marlon Brando, dazwischen noch ein paar Katzen, Hunde, Pferde und viele auffliegende Vogelschwärme und Sonnenuntergänge am Strand. Ich musste etwas finden, damit die Wände meines Zimmers nicht leer blieben. Wenn ich morgens aufwachte und keine Bilder zum Betrachten hatte, fühlte ich mich eingesperrt, wie in der Kiste unter der Erde, von der mein Onkel Jean gesprochen hatte.
Mitten in dem Haufen Poster fand ich ein Gesicht, das ich schon ein wenig kannte und das mein Interesse weckte. Den Namen dieser Frau hatte ich gehört, zwei oder drei ihrer Filmen im Fernsehen gesehen. Mit ihrem großen perfekten Lächeln, der lässigen Haltung und blendenden Schönheit war sie die Königin der Kino-Idole. Und, noch faszinierender, sie war schon vor meiner Geburt gestorben, was ihren Mythos nur vergrößert hatte. Auf allen Fotos von ihr stand ihr Name, wie ein Werbespruch, der sie noch hervorhob. Marilyn Monroe , der Star der Stars, der Archetyp des Supermodels. Vielleicht das wirkungsvollste Abbild von Weiblichkeit der ganzen Filmgeschichte. An jenem Tag kam ich mit drei Postern von ihr nach Hause und mit einer neuen Überzeugung: Um Verehrung zu verdienen, sollten Idole alle tot sein. Und den Status ewiger Bilder erreicht haben.
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