Holthoffs versöhnliche Worte lösten Frau Medanz aus ihrer Starre. Mit kurzem Dank nahm sie Julia das Pferd ab. Erst jetzt konnte Julia den Spanier in voller Schönheit bewundern.
Sie schätzte Placido auf etwas über 1,50 m Stockmaß. Die hohe Aufrichtung – der Hengst trug sich geradezu majestätisch – ließ ihn allerdings größer erscheinen. Er war von den Proportionen her etwas gedrungener als beispielsweise Pretty – aber was am meisten auffiel waren sein gerader, edler Kopf und der lockige Behang. Sein Fell glänzte in einem satten Braun, der schwarze Stirnschopf fiel tief herab, und nur wenn der Hengst ihn etwas schüttelte, erkannte man seine großen, langbewimperten Augen. Placidos Blick war selbstbewußt, aber freundlich. Interessiert folgte er seiner neuen Besitzerin zum Stall.
In der Stallgasse drängten sich die Reiter und Pferde der Reitabzeichenabteilung. Petra stand vor Finessas Box und kratzte ihr die Hufe aus, und Kathi wollte ihre Pretty gerade hinausführen. Die Stute wurde während der Theoriestunde im Hof angebunden. Dort wartete sie geduldig, bis Kathi sie wieder nach Hause in ihren Offenstall brachte.
Kathi hielt sich nah an der Stallwand, während sie Pretty an Frau Medanz und dem neuen Pferd vorbeiführte.
»Vorsicht, Mädchen, das ist ein Hengst!« rief Frau Medanz, obwohl Kathi mindestens fünf Meter Abstand hielt. Sie fuhr zusammen und klammerte sich an Placidos Führstrick, als der Spanier Pretty mit gellendem Wiehern zur Kenntnis nahm. Herr Holthoff schlug die Augen gen Himmel. Wenn das so weiterging, konnte es ja heiter werden.
Gelassen wanderte der Spanier an den Boxen von Finessa und Picasso vorbei und bezog den Stall neben dem gutmütigen Smutje. Sofort begann er, die Box ausgiebig zu beschnuppern, wobei er ab und zu genüßlich flehmte. Dazu zog er die Nüstern hoch und reckte den Hals. Offensichtlich roch der Stall noch nach Stute, und der Hengst nahm ihren Duft besonders intensiv wahr.
»Und der geht nun klassische Dressur?« fragte Herr Holthoff.
Frau Medanz nickte stolz.
»Piaffe, spanischer Schritt, Levade . . . alles. Er ist absolut traumhaft. In Spanien ist er bei Stierkämpfen geritten worden.«
»Ach, der Arme«, bemerkte Julia.
»Was heißt denn ›der Arme‹?« fragte Herr Friedhelm. »Stierkampf, das ist doch noch was. Da können die Pferde sich beweisen! Und die Reiter, nebenbei gesagt!« Der kleine dicke Mann, selbst ein eher mäßiger Reiter, bekam leuchtende Augen.
»Da laden die Männer ihre Hengste auch noch selbst ab!« Die Bemerkung kam nicht sehr laut, aber vernehmlich aus Finessas Box. Petra hatte sich mit der Stute vorsichtshalber schnell verzogen und sattelte nun im Stall ab.
»Petra!« Herr Holthoff lud eine Standpauke der Marke »Konzentrier dich gefälligst auf dein eigenes Pferd und kümmere dich nicht um die anderen« auf dem allseits bekannten Lästermaul ab. Aber als Julia später in der Stallgasse stand und Kathi von Placidos Auftritt erzählte, hörten sie den Reitlehrer in der Sattelkammer lachen . . .
»Sollen wir wieder ein Schaubild reiten? So zwischen Dressur und Springen?« Julia und Stephanie ließen ihre Pferde im Schritt über einen Waldweg gehen und sprachen über die Reitabzeichenprüfung. Durch das viele Hallenreiten und die früher einbrechende Dunkelheit kam Julia nur noch selten in den Rauhforst. Dabei war der Wald gerade jetzt so schön. Die Bäume standen in leuchtenden Herbstfarben und das herabgefallene Laub bildete eine weiche goldene Schicht auf den Reitwegen. Wenn Julia darübergaloppierte, träumte sie oft vom Jagdreiten.
»Warum nicht? Das Westernbild vom Turnier hat ja allen gut gefallen. Aber will eure Frau Medanz nicht was zeigen, mit dem Andalusier? Wenn der wirklich so gut ist, wie alle sagen, können Danny und Vio da nicht mithalten.«
Stephanie hatte Placido bisher nur kurz in der Box gesehen und war begeistert von seiner Schönheit.
»Bisher hör’ ich immer nur, wie toll er gehen soll. Gesehen hat es noch keiner.« Aus Julias Worten sprach der Frust der gesamten Reitabzeichenabteilung. Die Jugendlichen brannten darauf, den edlen Spanier in Aktion zu sehen, aber nicht einmal die neugierige Petra konnte etwas über ihn berichten. Wahrscheinlich ritt Frau Medanz ausschließlich vormittags. Herr Holthoff mußte Bescheid wissen, aber den wagten sie nicht zu fragen.
»Wenn er tatsächlich im Stierkampf eingesetzt wurde, muß er gut sein«, meinte Stephanie. »Sonst hätte er das nicht überlebt.«
»Stierkampf! Ist das nicht gräßlich? Wenn ich mir vorstelle, mein Pferd . . .« Julia schüttelte sich.
»Andere Länder, andere Sitten, Julia. Bevor du dich über die Stiere in der Arena aufregst, guck dir erst mal die Bullenmast hierzulande an. Dunkle Boxen, Schlachthof . . . Die spanischen Kampfstiere wachsen dagegen in Freiheit auf. Na ja, und was die Pferde angeht . . . Stierkampf ist sicher nicht sonderlich pferdefreundlich, aber S-Springen auch nicht. Man sollte immer erst vor die eigene Tür gucken!«
Stephanie versuchte stets, die Dinge von allen Seiten zu sehen. Sie war Redakteurin bei einer Pferdezeitschrift und wußte eine Menge über ungewöhnliche Pferderassen, Reitweisen und Pferdehaltung in fremden Ländern.
»Vielleicht kannst du zusammen mit Frau Medanz was machen«, lenkte Julia ab. »Du könntest im Damensitz reiten, im spanischen Kleid.«
Stephanie lachte. Sie führte ihren Danny zu gern im Damensattel vor.
»Lust hätt’ ich schon. Vielleicht kommt die Dame ja morgen zur Reitstunde. Dann kann ich mich mit ihr absprechen. Aber jetzt laß uns mal schneller reiten. Magst du den kleinen Sprung dahinten nehmen? Reit mit Schwung an, gib die Zügel vor, ohne sie wegzuwerfen und laß deine Unterschenkel nicht nach hinten fliegen!«
Julia galoppierte an, hielt auf das kleine Naturhindernis zu und versuchte, alle Hinweise zum perfekten Springsitz im Gedächtnis zu behalten. Wenn es um gutes Reiten ging, war Stephanie ebenso streng wie Herr Holthoff.
»Haben Sie nachher noch etwas Zeit, Frau Heiden?« Julias Reitstunde würde gleich anfangen, und Herr Holthoff schien erfreut, Stephanie zu sehen. »Ich wollte Sie ein paar Dinge fragen.«
»Klar«, Stephanie nickte. »Und wenn’s darum geht, Ihnen beim Aufbauen der Hindernisse zu helfen, sage ich gleich ja. Beim Rumstehen in der Halle friere ich nur.«
Die junge Frau kletterte in die Reitbahn und schleppte nach Holthoffs Anweisungen Bretter, Plastikplanen und Stangen in die Mitte. Julia und die anderen Reiterinnen wärmten inzwischen ihre Pferde auf. Frau Medanz war wieder nicht erschienen.
»Wie sie ein U bauen und eine Plane auslegen, wissen Sie ja selbst!« lächelte der Reitlehrer. Solche Hindernisse aus dem Western-Trail-Parcours gab es in seiner Reitschule erst, seitdem er bei Stephanie einen Kurzkurs in Leichter Reitweise genommen hatte.
Stephanie rollte eine gelbe Plastikplane aus und fixierte sie rechts und links mit Stangen. Frau Fests Schimmelstute scheute schon jetzt vor dem Geräusch.
»Passen Sie doch auf!« rief die Reiterin aufgeregt. »Herr Holthoff, wozu brauchen wir denn so was?«
Der Reitlehrer schmunzelte und setzte zu einem längeren Vortrag an.
»Der Reiterpaß, Frau Fest, ist eine Prüfung für Freizeitreiter, also für Leute, die sich schwerpunktmäßig im Gelände bewegen. Abgeprüft wird, ob Reiter und Pferd mit Geländeschwierigkeiten wie kleinen Sprüngen, Kletterstellen, Engpässen und so weiter fertig werden. Der Richter kommt dazu mit nach draußen. Wie Sie wissen, haben wir aber leider kein ideales Ausreitgelände in Stallnähe. Wir können also nicht in jeder Stunde rausgehen. Deshalb müssen wir den Ernstfall in der Halle proben, und dafür sind diese Hindernisse ideal. Wir beginnen mit dem U. Julia fängt an. Bitte reinreiten, Julia, und rückwärts wieder raus.«
Читать дальше