Die Stadt war in Fragen der Religion gespalten. Keine der Seiten konnte die Oberhand gewinnen. Zwar hatte der Rat durch die Annahme der neuen Kirchenordnung bereits Anfang des Jahres die Einführung der Reformation auch in Lübeck beschlossen, aber Beschlüsse zu fällen war die eine Seite, die Herzen und Köpfe der Bürger für den neuen Glauben zu gewinnen, eine andere.
Den jungen Händler beschäftigten nur die Erlöse, die ihm der Verkauf seiner Waren einbrachte. Und alles, was die Gewinne schmälerte, war ihm zuwider. Er hatte seinem Vater versprochen, die Lübecker Niederlassung zu alter Stärke zurückzuführen. Und genau das gedachte er mit Wibbekings Hilfe zu tun. Ein Schiff und zwei Eigner bedeuteten zwar nur den halben Gewinn, aber eben auch nur die halben Kosten und das hälftige Risiko. Den Preis für eine neue Kogge konnte Linhardt allein nicht aufbringen, ebenso wenig wie den für eine grundlegende Überholung der Irmla. Und ohne ein seetüchtiges Schiff mit großen Laderäumen musste seine Familie über kurz oder lang die Niederlassung in Lübeck schließen.
»Was ist so wichtig, dass du mich beim Arbeiten störst? Die Irmla läuft in zwei Tagen nach Riga aus und ich muss noch die Frachtlisten überprüfen.«
»Ein Glas Wein mit einem Freund?«
Linhardt schluckte seinen Ärger über die Störung hinunter. Martin hatte ja recht. Die Arbeit lief ihm nicht weg. Außerdem hatte er seine Kontrollen fast beendet. Den Rest konnte er auch später erledigen. Also bat er seinen Freund in die Stube.
Der Raum hatte sich seit den Tagen, als Linhardts Mutter hier gelebt hatte, kaum verändert. Die Ledertapeten aus Flandern zierten noch immer die Wände, auch wenn sie in den vergangenen dreißig Jahren rissig geworden waren. Der übermannshohe Schrank stand wie eh an seinem Platz neben der Tür. Nur die Bank vor dem ausladenden Tisch war durch einige Stühle ersetzt worden.
Die Holzdielen knarrten, als Linhardt mit dem Weinkrug und zwei Zinnbechern in der Hand aus der Küche zurückkehrte und einschenkte. Dann tranken die beiden jungen Männer.
»Du bist nicht nur wegen des Weines gekommen, habe ich recht?«, fragte Linhardt. »Du siehst aus, als würdest du jeden Moment platzen. Also, was gibt es Neues?«
»Eine Schönheit in unserer Stadt.«
»Da gibt es einige«, meinte Linhardt grinsend.
»Aber keine wie Madlen.«
»Madlen? Sollte ich sie kennen?«
Martin ignorierte die Frage. »Siebzehn Jahre alt. Schlank, fast so groß wie ich, braune Augen … Also, ich sage dir, diese Augen … Dunkle Haare und eine Stimme wie der Gesang einer Nachtigall. Und dann erst ihre Figur.« Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und verdrehte dabei die Augen.
Linhardt musste lachen. »Du führst dich auf wie ein Gockel. Wer ist diese Madlen?«
»Die Tochter von Jürgen Richolff.«
»Und wer zum Teufel ist das?«
Martin machte ein überraschtes Gesicht. »Du kennst den Drucker Richolff nicht?«
Linhardt schüttelte den Kopf.
»Die ganze Stadt spricht von ihm. Sein Haus steht in Fünfhausen, unweit Sankt Mariens. Dort wohnte schon sein Vater. Richolff ist erst vor knapp einem Jahr nach Lübeck zurückgekehrt. Davor lebte er in Schweden und Hamburg. Er druckt Bücher, die den neuen Glauben propagieren, sehr zum Unwillen einiger Ratsmitglieder.«
»Gehört dein Vater dazu? Er ist doch katholisch, oder?«
»Das schon. Aber er sympathisiert mit Bürgermeister Wullenwever und hat auf einer Versammlung auch Richolff kennengelernt. Er und mein Vater sind sich wohl sympathisch, denn die Richolffs haben uns zu sich nach Hause eingeladen. Da habe ich Madlen kennengelernt.« Er machte eine Pause. »Das heißt, ich habe sie nur kurz gesehen, aber mich sofort in sie verliebt.«
»Und sie sich in dich, nehme ich an?«
Martin zuckte nur mit den Schultern. »Ich konnte sie natürlich noch nicht fragen.«
»Ich verstehe.«
Es schien, als ob seinem Freund das Thema unangenehm war, denn er erkundigte sich: »Hast du dich schon entschieden?«
»Wofür?«
»Das fragst du? Welcher Religion du dich anschließen wirst. Die ganze Stadt spricht seit Monaten über nichts anderes und du tust so, als ob dich das nichts anginge.«
»Du weißt doch, dass mich Religion nicht interessiert.«
»Natürlich.« Martin griff zum Glas. »Dich beschäftigen nur Einnahmen, Ausgaben, Gewinne. Linhardt, das Leben besteht doch noch aus etwas anderem als Zahlen«, meinte er lachend.
»Für dich vielleicht«, knurrte sein Freund. »Aber ich habe einen Auftrag meiner Familie zu erfüllen.«
»Ich etwa nicht? Mein Vater erwartet ebenfalls, dass ich die Geschäfte weiterführe. Was ich auch tun werde. Aber deshalb muss ich doch nicht die Augen vor den schönen Dingen des Lebens verschließen. Wie hübschen Mädchen zum Beispiel.« Er zwinkerte Linhardt zu. »Du solltest Madlen kennenlernen. Sie wird dir gefallen.«
»Na gut. Wann stellst du sie mir vor?«
Etwas verlegen rutschte Martin auf seinem Stuhl herum. »So habe ich das nicht gemeint.«
»Nein? Wie dann?«
Sein Freund wand sich wie ein Aal. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen.«
Jetzt war es an Linhardt, laut aufzulachen. »›Eine Stimme wie eine Nachtigall‹, das waren doch deine Worte?«
»Ich habe sie beobachtet, als sie mit Freundinnen sprach«, druckste Martin herum. »Ich kann doch nicht einfach so auf sie zugehen. Was soll sie von mir denken!«
»Dass du ein ungehobelter Kerl bist, was sonst?«
»Linhardt!«, rief Martin. »Das nimmst du zurück.«
»Warum? Es ist die Wahrheit.«
Martin sprang in gespielter Empörung auf. »Ich werde dich …«
Das Eintreten der Magd beendete ihre Kabbelei. Martin stellte den Becher ab und lächelte seinem Freund zu. »Kein Wort zu Dritten. Versprich es mir.«
»Du kannst dich auf mich verlassen«, erwiderte Linhardt und begleitete seinen Gast in die Diele.
4
– Münster, 7. April 1531
In Münster brodelte es. Schon lange schwelte der Streit zwischen den alteingesessenen Patrizierfamilien und den aufstrebenden Handwerkern. Die Patrizier hielten an ihrer Herrschaft fest, heirateten nur untereinander und sicherten so in Verbindung mit dem Klerus ihre Pfründe. Die Handwerker hingegen forderten ihren Anteil an der Macht. Als die Patrizier dieses Ansinnen zurückwiesen, kam es zu einem Aufstand, der mit Gewalt niedergeschlagen wurde. Aber auf Dauer ließ sich der Unmut nicht unterdrücken.
Ein Ventil lieferte ein Mönch im fernen Wittenberg. Vierzehn Jahre war es her, dass Martin Luther seine Thesen an das Hauptportal der Schlosskirche geschlagen hatte. Fünfundneunzig Thesen, die das Fundament der katholischen Kirche ins Schwanken brachten.
Die benachteiligten Handwerker griffen nach der neuen Lehre wie Ertrinkende nach einem Strohhalm. Einige Jahre war es den Münsteraner Herrscherfamilien gelungen, die Bewegung unter Kontrolle zu halten. Als aber der Konflikt zwischen Klerus und Patriziern auf der einen Seite und den Handwerkergilden auf der anderen Seite offen ausbrach, fanden Letztere Unterstützung bei den Vertretern des neuen Glaubens.
In der Nacht vor Karfreitag versammelten sich auf dem Münsteraner Domplatz wenige Dutzend Menschen. Sie folgten einem Aufruf des Kaplans von Sankt Mauritz, Bernd Rothmann, der sich als charismatischer Prediger im Sinne der Ideen Luthers einen Namen in der Stadt und ihrer Umgebung gemacht hatte.
Rothmann ging weiter als Luther. Er prangerte die Zahl der Feiertage an, die zu groß sei, verkündete, der Gottesdienst sei vom Teufel, ebenso wie der Reichtum der Kirchen. Und als er auch noch erklärte, Kirchengut sei herrenlos und leicht zu gewinnen, liefen ihm die armen Leute in Scharen zu, in der Hoffnung, sich so ihrer Schulden zu entledigen. Aber auch bei einigen der wohlhabenderen Bürgern Münsters fielen seine Predigten auf fruchtbaren Boden. Zu faszinierend erschien das, was ein Mönch in Wittenberg losgetreten und Rothmann weitergedacht hatte.
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