Doch bei der zweiten Nummer brach Keyboarder Mike plötzlich mitten im Refrain ab.
„Ist doch alles Scheiße, was wir hier machen“, sagte er und verschränkte die Arme. „Lauter kommerzieller Käse.“
„Sag mal, hast du den Arsch offen?“, regte Kenny sich sofort auf. „Die beiden Nummern sind der Wahnsinn, damit kommen wir groß raus. Die Labels fahren garantiert voll ab auf Eddies Stimme und auf meine Riffs. Vor allem natürlich auf meine eigenen Songs.“
„Kein Mensch will so was hören“, rief Mike. „Mir ist das viel zu wenig Grunge.“
Nicht schon wieder! Edwina verdrehte die Augen.
„Mike, wir haben doch darüber abgestimmt, dass wir keine Setlist aus lauter Nirvana-Nummern machen.“ Wieso fing er immer wieder damit an?
Doch er war bockig wie ein Kleinkind. „Ihr seid solche Idioten!“, fauchte er. „Ich hab euch schon tausend Mal erklärt, was wir spielen müssen. Eine Fusion aus Grunge, Hard Reggae und Dubstep! Das ist was, das niemand sonst macht!“
„Ja, weil es keiner hören will“, konterte Brian und biss ungerührt in einen Apfel.
„Genau“, pflichtete Edwina ihm bei. „Wir wissen doch, wo unsere Stärken sind. Kenny schreibt uns eigene Songs, wir wollen doch mehr in Richtung Retro-Style. Mensch, darüber haben wir doch schon oft geredet! So Sachen, wie Amy Winehouse sie gemacht hat, sind wieder voll im Kommen.“
„Und das haben wir super drauf“, ergänzte Brian.
„Bullshit!“ Mike wurde immer lauter. „Ihr Affen habt ja keine Ahnung! Das ganze alte Zeug ist stinklangweilig, damit lockt ihr keinen einzigen Produzenten hinterm Ofen vor. Warum kapiert ihr das nicht, verdammt? Man muss Spannung aufbauen in einem Song, hört doch mal, ich zeig’s euch. Der Drop! Die richtig rigorosen Reggae Beats! Dazu ein Einschub von Smells Like Teen Spirit . Das ist die Zukunft!“
Er drückte ein paar Knöpfe und ließ dann einen ohrenbetäubenden Lärm durch den Probenraum schallen. Edwina war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten – und das hatte sie nicht mal bei diesem höllenlauten Manowar Konzert getan! Ihr Kumpel Rocco, der dort als Türsteher arbeitete, hatte sie damals eingeschleust. Mike simulierte mit dem Keyboard kreischende E-Gitarren, dazu schaltete er einen treibenden Technobeat, der unterbrochen wurde von ein paar Reggae-Takten, die überhaupt nicht hineinpassten. Der Beat schwoll immer mehr an, aber ohne irgendwohin zu wollen. Mittendrin brüllte Mike dann plötzlich Kurt Cobains „I feel stuuupid and contaaagious“ hinein.
Fuck, drehte er jetzt völlig durch?
Entsetzt starrte Edwina ihn an.
In Kenny hingegen war während der letzten Takte Leben gekommen. Er fackelte nicht lange und zog den Stecker von Mikes Keyboard aus der Dose.
„Das ist der größte Dreck, den ich je gehört habe!“, rief er. Feingefühlt gehörte nicht unbedingt zu Kennys Stärken, aber Edwina musste ihm dieses Mal leider recht geben.
„Und ihr seid die größten Idioten, weil ihr nicht erkennt, wo der Trend hingeht!“, schrie Mike. „Ihr könnt mich alle mal.“
Er sprang auf, packte sein Keyboard und stürmte wutschnaubend hinaus.
Brian ließ seinen Apfel sinken. „Das meint er doch nicht ernst, oder? Ich mein – wir haben nächste Woche einen Gig. Wie sollen wir ohne Keyboard auftreten?“
„Er hat die letzte Zeit eh nur lauter Mist gespielt“, schimpfte Kenny Mike hinterher. „Wir sind besser dran ohne den Kerl.“
Edwina machte zwei Schritte auf ihn zu. „Aber Kenny – wir brauchen ein Keyboard! Wie sollen wir sonst die Gigs spielen? Das ist doch genau unser Sound! Und du weißt, Corey Carpenter wird bestimmt bald vorbeikommen. Wir können doch bei dem nur punkten, wenn wir unseren Special Retro-Sound draufhaben. Aber den kriegen wir ohne Keyboard nicht hin!“
Verdammte Scheiße, das war doch ihre große Chance! Sie waren so kurz davor, endlich einen Produzenten zu finden und ein Album einzuspielen. Da konnte ihnen dieser verfluchte Mike doch nicht alles kaputtmachen!
„Mein Gott, jetzt mach dir nicht ins Hemd, Eddie“, sagte Kenny. „Wir werden schon einen neuen Keyboarder finden. So selten sind die nun auch wieder nicht.“
Doch ihr Hals fühlte sich an, als hätte jemand ein Gitarrenkabel herumgeschlungen und würde immer fester zuziehen. Es stand so irrsinnig viel auf dem Spiel. Womöglich ihre ganze Zukunft!
„Einen, der zu unseren Nummern passt? Der die ganzen alten Sachen draufhat und genau den Sound rüberbringt, den wir auf das Demoband gepackt haben?“ Die Panik machte ihre Stimme ganz piepsig. Das war völlig unmöglich, sie waren schließlich ein eingespieltes Team!
„Hey, Baby, flipp nicht gleich aus.“ Kenny kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Wir hängen ein paar Zettel aus und fragen rum, London ist groß, da werden wir schon einen Ersatz auftreiben.“
Doch Edwina fühlte deutlich, dass es keinesfalls so einfach sein würde, wie er sagte. Alles an ihr war angespannt, ihre Kehle trocken, ihr Brustkorb eng. Sie steckten in einer verfluchten Klemme und weder Kennys Worte noch seine Umarmung konnten ihr etwas Beruhigendes schenken.
War ihr größter Traum gerade dabei, wie eine schillernde Seifenblase zu zerplatzen?
2
Himmel, Tag der Entscheidung
Auf der runden Bühne des himmlischen Amphitheaters, das normalerweise als Probestätte für die Engels-Chöre diente, saß Pasiel am Klavier, spielte Chopin und war überirdisch glücklich. Er schloss die Augen und versank völlig in die melancholischen Töne, die ihn umwehten. Der Dreivierteltakt umfloss ihn wie sanfte Wellen und die verspielten Achtelnoten der Melodie ließen ihn verträumt seufzen. Klassische Musik war etwas Wunderbares. Pasiels Finger liebkosten die kühlen Tasten und in ihm erwachten Erinnerungen an seinen ersten Klavierlehrer, der selbst noch ein Schüler Chopins gewesen war und oft von dessen leidenschaftlichem Wesen geschwärmt hatte.
Bei der Forte-Stelle bekam er wie immer eine leichte Gänsehaut und freute sich gleichzeitig auf den herrlich lyrischen Achtel-Lauf, der gleich folgen würde. Die Töne erhoben sich aus dem Klavier und erfüllten die Luft mit einem silbernen Klang, vor dem man sich nur ehrfürchtig verneigen konnte.
„Schluss mit dem Geklimper, ich muss hier putzen“, quäkte es urplötzlich hinter ihm. Mit einem Staubwedel wurde über seinen Nacken gefegt, als sollte er damit verscheucht werden.
Erschrocken fuhr Pasiel herum, nieste herzhaft und erkannte diesen unsäglichen Katzfiel, der ihn vorwurfsvoll anfunkelte. Katzfiel hatte sich neulich zum leitenden Hausmeisterengel ausgerufen. Da auch im Himmel modernere Zeiten angebrochen waren, nannte er sich jetzt „cloud based facility manager“, was so gar nicht zu diesem derben Kerl mit struppigem Bart und Zottelhaaren passte. Warum der hier auf der hohen Himmelsetage gelandet war, wusste sicher nur Erzengel Gabriel persönlich.
„Los, mach Platz, Musikus“, ermahnte ihn Katzfiel auch schon und kippte einen Eimer Putzwasser mit Limonenduft in das strahlend weiße Rund des Amphitheaters, sodass sich Pasiel schnell auf den Stufen in Sicherheit brachte. Wie die meisten hier begegnete ihm der Hausmeisterengel ohne Respekt.
Von weiter oben stieg einer der Chorengel herab. Es war Amia aus dem ersten Sopran, der er manchmal Einzelstunden gab.
„Tut mir leid, Amia, für unsere Lektion sieht es im Moment schlecht aus.“ Er wies mit dem Kopf auf den wild wischenden Putzengel. „Aber wir holen es bald nach, versprochen.“
Amia strich sich ihre blonden Locken zurück und lächelte. „Das ist kein Problem. Ich kann ja verstehen, dass er die Bühne auf Vordermann bringen will. Heute Abend soll natürlich alles glänzen.“ Sie ging mit ihm zusammen wieder nach oben.
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