Dass sie mit ganz viel Glück einen Plattenvertrag in Aussicht hatten, band sie ihm lieber nicht auf die Nase, auch wenn sie bei diesem Gedanken immer richtig hibbelig wurde. Es wäre einfach toll, groß rauszukommen! Und die Band hätte es echt verdient, die Jungs und sie arbeiteten verdammt hart an ihrem Sound.
„Ah, okay. Dann will ich dich nicht aufhalten.“
„Ist schon okay, wir haben ja jetzt erst Ladenschluss.“ Sie sollte ruhig etwas freundlich zu Bronco sein, er war schwer in Ordnung. „Steht dir wirklich gut, der Skull“, sagte sie deshalb mit wärmerer Stimme. „Ich wette, deine weiblichen Fans werden dich von der Bühne zerren, sobald du dein Shirt ausziehst.“
„Meinst du echt?“ Auf seinem schmalen Gesicht blühte ein Strahlen auf.
„Na ja, es ist auf jeden Fall ein sexy Tattoo“, bestätigte sie. „Und eins, das nicht jeder hat.“
Er nickte und sah stolz auf sich herunter, bevor er in seinen Pulli schlüpfte. „Es macht richtig was her. Und ich schau damit tougher aus, nicht wahr?“
„Absolut. Außerdem hast du total ruhig gehalten beim Stechen, da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt. Hut ab, Bronco.“
Nun strahlte er fast so hell wie die medizinische Lampe über dem Stuhl.
„Bin halt ein echter Kerl“, sagte er und bemühte sich um eine etwas tiefere Stimmlage.
„Ja, total“, behauptete Edwina und schmunzelte in sich hinein. Er war zwar völlig unmusikalisch, aber ansonsten ganz okay. Und wenn sie ihm heute mit dieser dreistündigen Nadelsitzung zu ein bisschen mehr Selbstbewusstsein verholfen hatte, war das doch irgendwie ein gutes Werk. Außerdem spülte es Geld in Gareth‘s Kasse und zahlte somit ihr Gehalt.
Edwina kassierte und gab ihm noch letzte Anweisungen, wie er sein neues Tattoo zu pflegen hatte. Anschließend schloss sie hinter ihm die Tür ab, desinfizierte alles gewissenhaft und schlüpfte schließlich in ihre Jacke.
Als sie hinausging, zog sie schnell den Reißverschluss zu. Ein eisiger Winterwind fegte durch Londons Straßen und wirbelte ein Papiertuch herum, das jemand achtlos fallen gelassen hatte. Edwina erkannte den lilafarbenen Aufdruck, es war eine Serviette aus dem naheliegenden Café. Umgehend begann ihr Magen zu knurren, denn sie sah die leckeren Pizzataschen und saftigen Muffins förmlich vor sich, die dort angeboten wurden. Aber ihr Kontostand sorgte dafür, dass sie lieber die andere Richtung einschlug. Zu Hause hatte sie noch eine Packung Nudeln herumstehen, die mussten reichen als Abendessen. Wenn sie ganz viel Glück hatte, schleppte Mike, der Keyboarder, wieder mal einen halben Kuchen zur Bandprobe mit, denn seine Nachbarin war neuerdings dem Backwahn verfallen.
Obwohl ihr der eisige Wind in den Kragen fuhr und sie eigentlich schon längst bei der Probe hätte sein sollen, blieb sie vor dem Schaufenster einer Buchhandlung stehen. Neben den üblichen vorweihnachtlichen Ratgebern für selbstgetöpferte Geschenke und gehäkelte Christbaumkugeln lag ein Buch über Janis Joplin.
„Ihr erstaunlicher Weg zum Erfolg“, las Edwina halblaut den Titel und betrachtete fasziniert das Foto der berühmten Bluesrock-Sängerin. Janis stand am Mikro, hatte die Arme ausgebreitet und die Augen geschlossen, war total in den Song versunken. Wie glücklich sie aussah! Sie trug eine bunte Batikbluse, ihr widerspenstiges Haar flatterte wild herum und sie war ungeschminkt. Janis war keine dieser modernen Popschönheiten, die ihr Geld ebenso gut als Model verdienen könnten. Aber der Ausdruck in ihrem Gesicht faszinierte Edwina so sehr, dass sie kaum ihren Blick losreißen konnte. So sah wahre Hingabe aus. So war es, wenn ein Künstler vollständig in seiner Musik aufging.
Einen Moment lang war sie versucht, hineinzugehen und das Buch zu kaufen. Einfach, weil sie wissen wollte, wie Janis diesen kometenhaften Aufstieg geschafft hatte. Aber es war ein Hardback und kostete saftige fünfundzwanzig Pfund, das war ihr dann doch zu teuer. Zumal sie das Meiste wahrscheinlich schon wusste. Janis hatte – genau wie sie selbst – ein Talent zum Zeichnen gehabt und deshalb als Kind Kunstunterricht erhalten. Okay, Unterricht hatte sie, Edwina, nie bekommen, aber ansonsten gab es noch mehr Gemeinsamkeiten. Janis hatte sich das Singen nämlich auch selbst beigebracht, hatte die uralten Blueslegenden wie Bessie Smith gehört, war in der Schulzeit Außenseiterin gewesen und irgendwann als Sängerin in einer Band eingestiegen.
Nur war sie dann halt entdeckt worden und zum Weltstar aufgestiegen. Edwina seufzte leise. Wie sehr hoffte sie, dass ihr das auch passierte! Dass sie irgendwann auch vor so großem Publikum stehen und ihr Gesicht vielleicht auf einer CD-Hülle zu sehen sein würde.
„Rücken Sie mal zur Seite“, riss die nasale Stimme einer Frau sie aus ihren Träumen. Edwina fuhr herum. Neben ihr stand eine dieser typischen Londoner High Society-Ladys, die man sofort an ihrer teuren Garderobe, dem hochnäsigen Blick und der akzentuierten Aussprache erkannte. Gott, Edwina hasste diese eingebildeten Zicken!
„Ich denke gar nicht daran!“, gab Edwina zurück. Sie hatte schließlich das gleiche Recht, hier zu stehen, wie diese Schnepfe im karamellbraunen Kaschmirmantel und den goldenen Muscheln an den Ohren.
Doch die Dame musterte sie von oben bis unten. „Sie sehen nicht aus, als würden Sie hier wirklich einkaufen wollen“, säuselte sie in diesem arroganten Upperclass-Akzent, der Edwina immer rasend machte. Nur weil sie schwarze Boots, eine löchrige Jeans, ein Nasenpiercing und eine Lederjacke trug, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie nie eine Barnes and Noble-Filiale betrat!
„Moment mal!“ Edwina baute sich vor der Lady auf, doch ein Mann im Anzug unter dem schwarzen Mantel kam von der anderen Seite auf die Frau zu.
„Penelope, Liebes, da bist du ja!“, rief er und bot ihr seinen Arm an. „Komm, wir kaufen jetzt die Läden leer, ich habe schon ein paar ganz wundervolle Geschenke gesehen. Dieses Teeservice mit den zartrosa Magnolienblüten ist eine Augenweide!“
Die beiden rauschten ab.
„Penelope!“, wiederholte Edwina zynisch. „Wer zum Henker heißt denn so?“
Bestimmt hatte die noch Schwestern, die auf die Namen Kassandra, Athena und Kassiopeia hörten, oder was die griechische Mythologie, die den Eltern auf ihrer Privatschule eingetrichtert worden war, eben so hergegeben hatte. Und die ganz entzückt waren, wenn sie von Schwager Agamemnon ein blassrosa Teeservice als Weihnachtsgeschenk überreicht bekommen würden.
Okay, Edwina wäre auch kein Name, den sie einer Tochter verpassen würde, aber er klang zumindest nicht nach Altertum und Angebertum.
Ihr Handy klingelte. Es war Kenny. „Hey, wo bleibst du denn?“
„Bin schon auf dem Weg zu euch“, sagte sie und marschierte jetzt eilig zur nächsten U-Bahn-Station.
Gleich würde sie dort sein und zusammen mit den anderen ein paar Hammernummern raushauen. Beim nächsten Auftritt würde dann endlich der Talentscout Corey Carpenter auftauchen, dem sie das Demoband geschickt hatte, und dann würde sie es irgendwann all diesen Penelopes und Persephones und Pandoras zeigen, die nur in ihren langweiligen Westend-Villen herumhockten, während sie, die ungebildete Edwina, die größten Hallen der Welt rockte und das Publikum ihr zu Füßen lag!
Yes!
Diese Vorstellung tat richtig gut. Voller Elan stieg Edwina in die Bahn und betrat eine Viertelstunde später den Probenraum, in dem der Rest von „Heaven’s Nightmare“ bereits versammelt war. Sogar ihre Wut auf den untreuen Kenny war fast verflogen. Sie begrüßte den Gitarristen mit einem Kuss, warf Tasche und Jacke auf den Verstärker und schnappte sich das Mikro.
Dann ging es auch schon los mit einem Song, den Kenny komponiert hatte.
„Like a hurricane I came into your life”, röhrte sie ins Mikro.
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