Die meisten Forscher gehen davon aus, dass die Häuser etwa zu der Zeit entwickelt wurden, als man anfing, den Aszendenten in den Horoskopen zu markieren. Die ersten uns bekannten Beispiele datieren aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. 12Man sollte jedoch berücksichtigen, dass es damals gängige Praxis war, Horoskope auf leicht verderblichen Papyri festzuhalten, was erklären kann, dass nur zwei ähnliche Horoskope aus früherer Zeit gefunden wurden. Insofern ist die Zuverlässigkeit dieser Aussage durchaus bezweifelbar. Wir wissen, dass der östliche Horizont schon lange, bevor Tierkreisgrade benutzt wurden, anhand eines bestimmten Sterns oder einer Konstellation markiert wurde. Wir wissen ferner, dass in Mesopotamien bei allen Divinationstechniken ein großes Gewicht auf die Orientierung und die Einteilung des Raumes gelegt wurde. Das Grundvertrauen in die Aufgänge und Untergänge der Sterne am Horizont lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Kardinalpunkte immer eine zentrale Stütze bei der astrologischen Deutung waren, und niemals so sehr wie in der Astrologie der Antike wurden die wichtigsten Ereignisse im Zusammenhang mit diesen bezeugt. Dies tritt ganz deutlich in der ägyptischen Kosmologie hervor, wo immer wieder auf die „beiden Horizonte“ Bezug genommen wird ebenso wie auf die vier Kardinalpunkte, von denen jeder unter den Schutz eines eigenen Gottes fällt und dem jeweils eine große Bedeutung in allen Angelegenheiten von Leben und Tod zufällt. Es wäre logisch anzunehmen, dass eine strukturierte Himmelseinteilung schon lange vor dem uns zugänglichen Datum bekannt war, sowohl zur astronomischen Beobachtung als auch für mystische und symbolische Zwecke. Bei den Beispielen mit einem ähnlichen Zugang zur räumlichen Analyse wie etwa bei der Leberschau gibt es bemerkenswerte Unterschiede zur astrologischen Häuserteilung, wie wir noch sehen werden. Vor allem die Anzahl der Einteilungen und die zugeschriebenen Attribute und Götter sind unterschiedlich. Es besteht jedoch eine gewisse Konsistenz in den Grundprinzipien, die den räumlichen Qualitäten und Orientierungen wie links und rechts oder östlich und westlich zugewiesen werden. Die inhärenten Eigenschaften sind gleich wie bei den Ägyptern, den Pythagoreern und bei allen anderen bedeutsamen antiken Philosophien. Östlich und rechts wird mit auf den Tag bezogenen (diurnalen) und maskulinen Qualitäten assoziiert, während links und westlich als nächtlich und weiblich gilt.
Die bei der Leberschau verwendeten Techniken demonstrieren dieses universelle Verständnis. Die Symbolik muss auf einer gewissen Ebene in Bezug zu der körperlich-physikalischen Ebene stehen. Hier gibt es eine Folgerichtigkeit, denn die den Richtungen zugeschriebenen Bedeutungen werden durch meteorologische Einflüsse festgelegt, die der Natur unserer physikalischen Umgebung aufgezwungen werden. Grundsätzlich beruhen diese auf den wechselnden Zyklen von Hell und Dunkel, welche die Extreme von Tag und Nacht oder Sommer und Winter hervorrufen und Verbindungen zu den Polaritäten Aktivität und Empfänglichkeit, Wachstum und Zerfall herstellen. Damit kann man die symbolische Erkenntnis von Licht und Farbe, Form und Zahl sowie Geschwindigkeit und Richtung als ungebrochene Tradition bezeugen, die alle antiken Divinationstechniken untermauert und die auch die astrologische Philosophie der Aspekte und Planetenbedeutungen unterstützt. Auf die besondere Bedeutung von Orten und Richtungen werden wir im folgenden Kapitel näher eingehen und sie aus der Perspektive der ägyptischen Mystik untersuchen. Ohne Zweifel repräsentieren Orte und Richtungen die wichtigste Grundlage für die Qualitäten, die man den kardinalen Richtungen zuschreibt, aus denen sich die speziellen Häuserdeutungen entwickelten.
Abb. 7: Das Beobachtungsfeld bei der Omendeutung
Die oben stehende Abbildung geht auf ein Bild zur „Aufteilung des heiligen Ortes“ zurück. Es zeigt das Modell einer Leberschau nach alter mesopotamischer Tradition. Zur Deutung teilt der Augur das Beobachtungsfeld in vier Abschnitte ein. Rechts finden sich gute Einflüsse, links ungünstige. Partes Antica bezeichnet. Innerhalb der 16 Abschnitte werden die Namen verschiedener Götter genannt, die über die den Unterteilungen zugeordneten Angelegenheiten herrschen. Der Autor, Jack Lindsay, schreibt: „(Sie) hatten ein streng durchkomponiertes System von Himmel-Erde Korrespondenzen, bei dem der räumlichen Ausrichtung und Aufteilung große Bedeutung zugemessen wurde. … Die Richtung wurde durch die vier Kardinalpunkte festgelegt, die jeweils durch zwei gerade Linien unterteilt wurden: die Nord-Süd-Linie, die man cardo nannte und die Ost-West-Line namens decumanus“.
Aus: Jack Lindsay. Origins of Astrology, (London 1971, S. 18)
Während die Frage, inwieweit die alten Ägypter direkt die Wurzeln für die Tradition der westlichen Astrologie legten, ein kontroverses Thema bleibt, können wir doch immerhin sicher sein, dass ihre Auffassung von den Eigenschaften der Himmelsrichtungen die Standpunkte der mesopotamischen und anderer früherer Kulturen widerspiegelt. Wir können ferner sicher sein, dass diese allgemein anerkannte und universelle Perspektive die erste Grundlage für das bildete, woraus später die hellenistische Astrologie hervorging. 331 v. Chr. hatte Alexander der Große Kleinasien, Syrien, Ägypten und Mesopotamien erobert und die gesamte Region überrannt, um sie dem aufblühenden griechischen Reich einzuverleiben. Viele Priesterkollegien entlang des Euphrats wurden durch die Invasion zerstört, was viele Priester zwang, ihr Wissen nach Westen zu bringen. Die Griechen richteten wichtige Bildungszentren in Athen, Babylon und Alexandria ein, jener Stadt, die Alexander an der Mündung des Nils gründete. In diesen Zentren konnten die antiken Philosophen direkt Einfluss aufeinander nehmen, und sie schufen ein interkulturelles geistiges Zentrum, welches die spätere Entwicklung der Wissenschaft einschließlich der Astrologie mit Nahrung versorgte.
Nach dem Zusammenbruch Mesopotamiens erschlossen die siegreichen Griechen viele der metaphysischen und wissenschaftlichen Fortschritte, vermischten diese mit den Errungenschaften Ägyptens und fügten ihre eigenen Erkenntnisse hinzu. Damit schufen sie ein philosophisches Paket, welches die Weisheit des Ostens in das Erbe der modernen westlichen Welt einbezog. Besonders Alexandria spielte bei der Entwicklung der Astrologie eine bedeutende Rolle, vornehmlich wegen seiner immensen Bibliothek, welche 500 000 Manuskriptrollen archivierte. Gelehrte hatten hier freien Zutritt und konnten auf unbestimmte Zeit studieren, was mit königlichem Vermögen gefördert wurde, eine Tradition die aufrechterhalten wurde, als die Stadt später unter die Herrschaft Roms fiel. Viele verschiedene Gelehrte wie Ptolemäus oder Vettius Valens lebten und wirkten hier, und in Alexandria wurden die meisten astrologischen Daten gesammelt, ausgewertet und wieder in Umlauf gebracht. Dies geschah mit dem großen Wunsch, die mystischen Prinzipien beizubehalten, mit denen die älteren Zivilisationen Ägyptens ihre wissenschaftlichen Geheimnisse maskiert hatten und mit denen sie gewaltige Höhen erreicht hatten.
Um das Jahr 150 vor Christus entstand das Nechepso und Petosiris zugeschriebene Werk in Alexandrien, eine Abhandlung, auf der viele spätere astrologische Werke aufbauten. Eine andere Zusammenstellung alter Texte zu Astrologie, Magie und Alchemie ist das um 150 nach Christus in Alexandria entstandene Corpus Hermeticum. Hier wurde der griechische Gott Hermes, der nie zuvor mit Lernen oder Philosophie gleichgesetzt worden war, mit den Attributen des ägyptischen Thot und des Nabu, dem babylonischen Gott der Divination und des Wissens, das vom Planeten Merkur repräsentiert wurde, geehrt Hermes wurde in allen Kulturen als der Gott des Lernens und der Weisheit verehrt, und man erkor man ihn zum „dreifach großen Hermes“ – ein Name, der auch assoziiert, dass man einen Gott dreimal anrufen sollte. Das Corpus Hermeticum genießt den Ruf, direkt auf den Lehren Thots zu basieren, aber tatsächlich enthält es wesentlich weniger alte ägyptische Quellen, als man einst annahm. Es ist eindeutig von graeco-romanischen Ideen geprägt. Die Bereitschaft der alten Autoren, es den Ägyptern zuzuschreiben, sollte ein Zeichen für den Respekt sein, den man dieser alten Kultur zollte und zugleich ein Hinweis darauf, wie leidenschaftlich die Griechen daran arbeiteten, den vorhandenen ägyptischen Mystizismus in ihre eigenen philosophischen Studien einzugliedern.
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