Wenn wir durch das Tor der Wahrheit gehen, beginnen wir mit der Erkenntnis dessen, was wirklich ist, und streben danach, es anzunehmen. Dieses Annehmen bedeutet nicht passive Resignation, sondern ein mutiges Sich-Einlassen auf die Realität unserer Erfahrung. Vielleicht gefällt uns nicht, was wir dabei entdecken, aber wir können es mit mitfühlender Präsenz umfangen. Je mehr wir in dieser Präsenz ruhen, desto heller und klarer wird unsere Aufmerksamkeit. Dann sehen wir das, was jenseits des wechselhaften Spiels der Gedanken, Gefühle und Empfindungen liegt, und entdecken unsere innere Zuflucht – jene wache Offenheit und Feinfühligkeit, in die jede Erfahrung eingebettet ist.
Das Tor der Liebe
Teil einer bewussten Gemeinschaft zu sein, ist eine wunderbare äußere Zuflucht und ein kraftvoller Weg zu wahrer Geborgenheit. In der buddhistischen Tradition bezog sich das Wort Sangha ursprünglich auf die Gemeinde der Mönche und Nonnen, die dem Weg des Buddha folgten. Heutzutage verstehen wir hier im Westen Sangha oft in einem umfassenderen Sinn. Der wesentliche Unterschied zwischen einem Sangha oder einer bewussten Gemeinschaft und anderen sozialen Organisationen ist die hingebungsvolle Verpflichtung zu bestimmten gemeinsamen Werten und Praktiken oder Ritualen, die dem spirituellen Erwachen dienen. Zu den bekanntesten Sanghas unserer Kultur gehören die Zwölf-Schritte-Gruppen, in denen sich die Mitglieder gegenseitig darin unterstützen, sich von Süchten und Abhängigkeiten zu befreien und ihre Lebensqualität zu verbessern.
Alle Religionen und Glaubensrichtungen haben ihre eigenen Formen solcher spirituellen Gemeinschaften, aber man braucht keinen formellen Zutritt zu einem Glauben, um diese Art der Zugehörigkeit zu erfahren. Unserer Meditationsgemeinschaft gehören Anhänger vieler verschiedener Traditionen und auch ausgesprochen säkulare Menschen an. In ihrem weiteren Umfeld haben sich über fünfundzwanzig kleinere Gruppierungen gebildet, sogenannte Kalyana Mitta oder spirituelle Freundeskreise, die gemeinsam erforschen, wie sie die Lehren in ihrem täglichen Leben umsetzen können. Diese Gruppen stehen jedem offen, der daran interessiert ist. Andere haben sich mit Menschen zusammengetan, die ähnliche Merkmale aufweisen wie sie selbst – Jugendliche und junge Erwachsene, Farbige, Menschen mit Suchtproblemen, Lesben, Schwule und Zweifelnde.
Natürlich können wir die Vorzüge eines Sangha auch genießen, wenn wir nicht Teil einer spirituellen Gruppierung sind. Häufig erfahren wir gerade in der Familie oder im Freundeskreis ständige Herausforderungen und tiefes Erwachen. Unsere Herzen öffnen sich weit, wenn wir Geburten oder Hochzeiten feiern, den Verlust lieber Menschen betrauern, uns für ein Festmahl versammeln, anderen eine schwierige Wahrheit anvertrauen oder einander in Zeiten der Krankheit und des Stresses helfen. In der unmittelbaren Nähe, die in diesen Momenten entsteht, erhaschen wir eine Ahnung davon, wer wir jenseits der Trance des kleinen Selbst sind.
Die Zuflucht der Liebe wird für mich immer wieder auf ergreifende und einfache Weise lebendig. Ich erlebe sie, wenn ich einem Freund oder einer Freundin im Schmerz still beistehe, wenn mein Mann Jonathan mich und meinen Computer sicher durch ein technologisches Minenfeld führt, wenn der Vorstand unserer Gemeinschaft tagt und einander auch dann respektvoll zuhört, wenn die Meinungen auseinandergehen. Ich erlebe sie, wenn ich an einem gemeinsamen Ziel mit anderen zusammenarbeite, sei es, um einen Text zu verfassen, ein Problem zu lösen, eine Mahlzeit zuzubereiten oder unserer Welt auf eine geringfügige, aber konkrete Art zu helfen. Mein »Ich«-Empfinden wird dabei lockerer und durchlässiger. Ich bin Teil von etwas Größerem, stehe nicht mehr im Bann des Schmerzes und der Angst vor Trennung.
Menschen kommen oft mit der Erwartung in unsere Meditationsgemeinschaft, dass hier alle freundlich, rücksichtsvoll und großzügig seien. Schließlich sind wir ja eine spirituelle Gruppe! Wenn ihre Mitmeditierenden dann gedankenlose oder verurteilende Bemerkungen machen, darauf bestehen, »recht« zu haben, oder sich in Konflikte verwickeln, kommt es leicht zu Enttäuschungen. Und wenn sie immer wieder mit ihren eigenen Gefühlen der Verletztheit und mit ihnen vertrauten Arten der Verteidigung und des Auf-Distanz-Gehens konfrontiert werden, fühlen sie sich oft desillusioniert.
Doch selbst wenn Gewohnheiten wie Schuldzuweisung oder Abwehr auftauchen, kann sich etwas zutiefst verändern, wenn die Betroffenen dem Geschehen mit hingebungsvoller Präsenz begegnen. Dann wird die Gemeinschaft zur Zuflucht – zu einem Ort wahren Erwachens.
Charlie war in seinem letzten Collegejahr, als er zu mir zur Beratung kam. Seine Mutter hatte ihn vernachlässigt, sein Vater hatte ihn misshandelt. Als er der Selbsthilfegruppe der Anonymen Drogensüchtigen beitrat, fühlte er sich unfähig, darauf zu vertrauen, dass sein Wohl seinem Sponsor wirklich wichtig war oder dass die Mitglieder seiner Gruppe ihn wirklich dabeihaben wollten. Ich ermutigte Charlie, dranzubleiben und sich nicht nur der Abstinenz zu verpflichten, sondern sich auch ganz auf die Begegnung mit den anderen Teilnehmern des Programms einzulassen. Es brauchte viele Monate regelmäßiger Treffen, aber schließlich konnte Charlie spüren, dass er endlich eine richtige Familie gefunden hatte.
Manche von uns haben immer wie Charlie im Abseits gestanden und auf die anderen geschaut. Andere brauchten das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, und waren aus diesem Grund nicht in der Lage, sich ihren Mitmenschen wirklich nahe zu fühlen. Manche sind ständig in Konflikte verwickelt und anderen gegenüber sehr aggressiv oder ausgesprochen defensiv. Wie unsere persönliche Geschichte auch immer verlaufen ist, uns allen wohnt die Fähigkeit zu innigen, authentischen Beziehungen inne, und sie lässt sich mit etwas Übung zum Leben erwecken, indem wir lernen, uns im gegenwärtigen Augenblick uns selbst und unserem Gegenüber bewusst zuzuwenden. Das ist in jeder Form von Beziehung möglich, in der sich die Beteiligten verbindlich darauf eingelassen haben, »zu bleiben«, freundlich zu sein und miteinander zu erwachen.
Spirituelle Freunde zu haben, ist keine oberflächliche Annehmlichkeit. Es hilft uns, aus der Trance der Getrenntheit zu erwachen, die oft so tief ist, dass wir sie nicht bemerken. In bewussten Beziehungen werden die verschiedenen Schichten unserer Gefühle von Minderwertigkeit und Einsamkeit genauso beleuchtet wie die Wahrheit unserer Zugehörigkeit. Wir fangen an, mit dem Leiden der Welt mitfühlender und aktiver umzugehen. Wir entdecken, dass unsere wahre Gemeinschaft alle Lebewesen umfasst. Wenn wir uns in diese Zugehörigkeit zu dem Netzwerk des Lebens hinein entspannen und ihr vertrauen, erkennen wir das eine Gewahrsein, welches durch jedes Wesen strahlt. Unsere spirituellen Freunde ebnen uns den Weg zu der inneren Zuflucht der bedingungslos liebenden Präsenz.
Das Tor des Gewahrseins
Kurz nach seiner Erleuchtung machte sich der Buddha auf den Weg, seine Erkenntnisse anderen mitzuteilen. Die Menschen staunten über seine außergewöhnliche Ausstrahlung und seine friedvolle Präsenz. Ein Mann fragte ihn, wer er sei. »Seid Ihr ein himmlisches Wesen oder ein Gott?« – »Nein«, antwortete der Buddha. – »Seid Ihr ein Heiliger oder Weiser?« Wieder verneinte der Buddha. »Seid Ihr eine Art Magier oder Zauberer?« – »Nein.« – »Aber was seid Ihr dann?« Der Buddha antwortete: »Ich bin erwacht.«
Ich erzähle diese Geschichte gerne, weil sie uns daran erinnert, dass spirituelles Erwachen – so außerordentlich es auch scheinen mag – eine den Menschen innewohnende Fähigkeit ist. Siddhartha Gautama (so lautete der Geburtsname des Buddha) war ein Mensch, kein Gott. Wenn Buddhisten zum historischen Buddha (der Name bedeutet »der Erwachte«) Zuflucht nehmen, lassen sie sich von einem Mitmenschen inspirieren, der seine innere Freiheit verwirklichen konnte. Genau wie wir erlebte Siddhartha körperliche Schmerzen und Krankheiten, und genau wie wir musste er sich mit inneren Konflikten und Widrigkeiten auseinandersetzen. Das Nachsinnen über sein mutiges Erforschen der Wirklichkeit und sein Erwachen zu einer zeitlosen und mitfühlenden Präsenz nährt in seinen Anhängern das Vertrauen, dass dieses Potenzial auch jedem von uns innewohnt.
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