Um das »Hier-Sein« zu unterstützen, können Sie sich beim Auftauchen intensiver Erfahrungen mentale Anmerkungen notieren. Das Benennen Ihrer Empfindungen (»Brennen, brennen«), Emotionen (»Angst, Angst«) oder bestimmter Arten von Gedanken (»Sorgen, Sorgen«) kann Ihnen helfen, klarer zu erkennen, was in Ihnen vor sich geht, ohne die Präsenz an der Nabe des Rades zu verlassen. Geben Sie Ihrem Flüstern einen sanften Tonfall der Akzeptanz: Das Benennen soll Ihnen dazu dienen, sich mit Ihrer aktuellen Erfahrung zu verbinden, ohne sie zu beurteilen oder ihr zu widerstehen. Es geht nicht darum, genau die richtige Bezeichnung zu finden oder alles zu benennen, was vor sich geht. Wenn Sie das Benennen als Ablenkung oder als schwerfällig empfinden – wenn es den Fluss Ihrer Präsenz stört –, können Sie es ziemlich sparsam einsetzen oder ganz weglassen.
Wenn Ihr Geist geschäftig umherflitzt und ständig die Nabe des Rades verlässt, wird Ihre Meditation eine natürlich fließende Bewegung zwischen »Zurückkommen« und vertiefter Präsenz beim »Hier-Sein« aufweisen. Wenn Sie jedoch merken, dass Ihr Geist zur Ruhe kommt, können Sie damit experimentieren, den Anker loszulassen. Ruhen Sie in der stillen Wachheit an der Nabe des Rades und empfangen Sie, was in Ihrem Gewahrsein auftaucht, ohne Ihre Aufmerksamkeit bewusst zu lenken. Gedanken können kommen und gehen, genauso wie die Empfindungen des Atems, ein Geräusch von draußen, ein ängstliches Zucken. Ihre Absicht ist einzig und allein, zu erkennen und zuzulassen, was geschieht, von Moment zu Moment zu Moment. Indem Sie die Kontrolle loslassen und sich mit dem sich ständig wandelnden Strom der Erfahrungen entspannen, beginnen Sie, in die ganze Fülle natürlicher Präsenz hineinzuwachsen. Bemerken Sie, wie grenzenlos die Nabe des Rades eigentlich ist; wie die Erfahrung weniger einem zu verortenden »Hier« entspricht, sondern vielmehr in der wachen Offenheit des Gewahrseins selbst erscheint und vergeht. Ruhen Sie in diesem Gewahrsein, und lassen Sie das ganze Leben durch sich leben.
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Drei Tore zur Zuflucht
Manchmal hörst du eine Stimme durch die Tür, die dich ruft,
wie ein Fisch auf dem Trockenen die Wellen hört …
Komm zurück. Komm zurück.
Diese Wendung hin zu dem, was du zutiefst liebst, rettet dich.
Rumi
Das große Geschenk eines spirituellen Pfades liegt in dem wachsenden Vertrauen, einen Weg zu wahrer Zuflucht finden zu können. Wir erkennen, dass wir genau dort beginnen können, wo wir sind, inmitten unseres eigenen Lebens, und unter allen Umständen Frieden erfahren können. Selbst in jenen Augenblicken, wo wir meinen, den Boden unter den Füßen zu verlieren – wie bei einem Verlust, der unser Leben für immer verändert –, können wir uns darauf verlassen, den Weg nach Hause zu finden. Dies ist möglich, weil wir mit der zeitlosen Liebe und Bewusstheit in Berührung gekommen sind, die unserem Sein zu eigen sind.
Im Verlauf der Menschheitsgeschichte und in vielen religiösen und spirituellen Traditionen tauchen immer wieder drei archetypische Tore zum universellen Weg des Erwachens auf. Aus meiner Sicht lässt sich der Geist dieser Tore am besten mit den Begriffen Wahrheit, Liebe und Gewahrsein erfassen. Wahrheit ist die lebendige Wirklichkeit, die sich im gegenwärtigen Augenblick offenbart; Liebe ist das Empfinden von Verbundenheit oder Einheit mit der Gesamtheit des Lebens; und Gewahrsein meint jene stille Wachheit, die den Hintergrund aller Erfahrung bildet; das Bewusstsein, welches diese Worte liest, Geräusche hört, Empfindungen und Gefühle wahrnimmt. Jedes dieser Tore bildet einen wesentlichen Teil dessen, was uns ausmacht; jedes ist eine Zuflucht, denn sie sind immer da, unserem Dasein selbst innewohnend.
Wer mit dem buddhistischen Weg vertraut ist, erkennt diese Begriffe vielleicht wieder. Traditionell lauten sie:
• Zuflucht zu Buddha (dem »Erwachten« oder unserem eigenen reinen Gewahrsein)
• Zuflucht zum Dharma (der Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks; den Lehren; dem Weg)
• Zuflucht zum Sangha (der Gemeinschaft der spirituellen Freunde oder der Liebe)
In den folgenden Kapiteln habe ich diese Tore jedoch so angeordnet, wie sie nach meiner Erfahrung am zugänglichsten sind. Für viele Menschen, vor allem für jene, die Meditation üben, bildet der Kontakt mit der Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks die erste Öffnung zu innerer Zuflucht. Für andere ist es das Erwachen der Liebe. Wenn wir uns mit diesen Toren der Wahrheit und der Liebe vertraut gemacht haben, entsteht daraus eine Hinwendung zu formlosem Gewahrsein. Im Laufe der Zeit wird die Zuwendung zu jedem dieser Tore auf natürliche Weise zu den anderen führen. Sie sind wahrhaft unzertrennlich.
Im Hinduismus sind dieselben Tore zentral, und sie heißen auf Sanskrit: Sat (ultimative Wahrheit oder Wirklichkeit), Ananda (Liebe oder Seligkeit) und Chit (Bewusstsein oder Gewahrsein). Und wir finden sie auch in manchen Interpretationen der christlichen Dreifaltigkeit wieder: Vater (der Ursprung oder das Gewahrsein), Sohn (das formgewordene Gewahrsein oder die lebendige Wirklichkeit/Wahrheit) und Heiliger Geist (Liebe, die Liebe zwischen Vater und Sohn).
Scheint das alles sehr abstrakt und unzugänglich, wenn wir mit unserem Alltag ringen? Wie können wir zu diesen Toren in unserem Alltag Zugang finden? Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass jeder dieser Zufluchtsbereiche einen inneren und einen äußeren Aspekt hat. In ihren äußeren Erscheinungsformen sind uns diese Zufluchten weltliche Quellen der Heilung, der Unterstützung und der Inspiration. Wir können aus weisen Lehren lernen (Wahrheit). Wir können mit Freunden und Verwandten Wärme und Zuneigung genießen (Liebe). Wir können uns von spirituellen Vorbildern inspirieren lassen (Gewahrsein). Jede Religion und jeder spirituelle Weg enthält Angebote solcher äußerer Zufluchten. Wenn wir uns auf sie einlassen, bieten sie uns direkte, konkrete Hilfen für unser tägliches Leben. Doch die äußeren Zufluchten offerieren noch mehr: Sie sind Zugang zu den inneren Zufluchten des reinen Gewahrseins, des lebendigen Flusses der Wahrheit und der grenzenlosen Liebe. Wenn wir uns diese Ausdrucksformen unserer wahren Natur zu eigen machen, löst sich die Trance der Getrenntheit auf und wir sind frei.
Die äußeren und inneren Aspekte der Zuflucht
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ÄUSSERE ZUFLUCHT |
INNERE ZUFLUCHT |
WAHRHEIT |
Meditation Ethik Lehren |
Die Natur der Wirklichkeit erkennen; lebendige Präsenz verkörpern |
LIEBE |
Bewusste Beziehungen zu sich selbst und anderen |
Einheit erkennen; liebevolle Präsenz verkörpern |
GEWAHRSEIN |
Inspirierende spirituelle Personen |
Das leere, leuchtende Gewahrsein erkennen und verkörpern |
Das Tor der Wahrheit
In Pali, der Sprache der frühesten buddhistischen Schriften, kann das Wort Dharma »Pfad«, »Weg« oder »Natur der Dinge« bedeuten. Wenn ich oder andere buddhistische Lehrer in unseren Kursen und Retreats »Dharma-Vorträge« anbieten, beziehen wir uns auf drei Wege, die wir einschlagen können, um Zuflucht zur Wahrheit zu nehmen: das Arbeiten mit unserem Innenleben durch eine Meditationspraxis; die innere Verpflichtung zu weisem, tugendhaftem Verhalten; und ein Verstehen der Lehren oder Wahrheiten, die uns auf dem spirituellen Weg leiten.
~ Meditation: Zur Wahrheit erwachen ~
Vielleicht sind Sie mit der Achtsamkeitspraxis in einer Klinik, in einer Psychotherapie oder in einer Fortbildung in Kontakt gekommen – ohne jeglichen Bezug zum Buddhismus. Allein die Erkenntnis, dass wir unsere Aufmerksamkeit bewusst steuern können, kann eine verblüffende, wundervolle Entdeckung sein. Auch ganz am Anfang der Praxis können wir die ruhige Zentriertheit erfahren, die sich einstellt, wenn wir aus unseren Gedanken aufwachen und im Atem ruhen und durch das achtsame Gewahrsein der Erfahrung des jeweiligen Augenblicks neue Klarheit gewinnen.
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