Das ist etwas, worüber Eltern nur selten außerhalb des Therapieraums sprechen, aber es gibt oft Phasen in der Eltern-Kind-Beziehung, in denen Spannungen und Wut vorherrschen – lange Phasen. Doch in allen Beziehungen sind harte Zeiten ein unvermeidlicher Teil des menschlichen Daseins. Während wir an die Konflikte und Spannungen mit pubertierenden Kindern gewöhnt sind und sie sogar erwarten, können zu jedem Zeitpunkt negative Gefühle auftauchen. Es ist vollkommen normal, verärgert über sein Kind (oder seinen Partner, seine Partnerin) zu sein. Doch wir fühlen uns schuldig, wenn wir solche Gefühle haben und verleugnen oder unterdrücken sie, weil wir glauben, mit uns stimme etwas nicht.
Reflexion: Was drückt deine Knöpfe?
Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um zu schauen, welche Dinge oder Situationen typischerweise auftreten und bei Eltern negative Gefühle auslösen.
Halte einen Moment inne. Ahhhh. Du brauchst diesen Moment der Reflexion und hast ihn verdient.
Atme ein paarmal tief ein und aus oder lausche den Umgebungsgeräuschen. Nimm das in dich auf. Tanke auf.
Manchmal ist es am einfachsten, sich zunächst an die Dinge zu erinnern, die unsere Eltern »ausrasten« ließen. – War es, wenn du …nicht im Haushalt geholfen hast?nach dem Essen den Tisch nicht abgeräumt hast?den Eltern widersprochen hast?Milch oder Essen verschüttet hast?dein Zimmer nicht aufgeräumt hast?mit deinen Geschwistern gestritten hast?in der Schule in Streitigkeiten mit anderen Kindern verwickelt warst?deine Hausaufgaben nicht gemacht hast?keine guten Noten nach Hause gebracht hast?
Wie sieht es bei dir aus? Was macht dich wütend? Was löst bei dir negative Gefühle aus? Schreib es auf und achte darauf, ob du bestimmte Muster erkennen kannst.
Bring dir zum Schluss ein bisschen Mitgefühl entgegen (und sogar deinen Eltern, wenn du kannst). Wir alle sind nur Menschen und verlieren manchmal die Beherrschung.
Forscher:innen sagen uns »what we resist persists« , das heißt, alles, wogegen wir inneren Widerstand leisten, verhärtet sich. Wenn du bei dir also Ärger wahrnimmst, dann kämpfe nicht dagegen an. Registriere diese Gefühle, erkenne sie an und lass sie dann los. Gedanken und Gefühle dauern selten länger als 30 Sekunden an. Versuche nicht, dir eine Geschichte dazu auszudenken oder mehr daraus zu machen als einen vorübergehenden menschlichen Moment der Verärgerung. Wenn es weiterhin an dir nagt, dann übe, was wir das mitfühlende NAGnennen.
Nimm das Gefühl oder die Empfindung wahr.
Akzeptiere, dass es da ist, ohne dagegen anzukämpfen, beobachte, wie es sich auflöst, und lass es schließlich Gehen.
Dem eigenen Kind immer wieder mit einer Haltung zu begegnen, die von Meditationslehrern »Anfängergeist« genannt wird, kann zu einem Neustart in der Beziehung beitragen. Es ist sehr leicht, in negativen Verhaltensmustern stecken zu bleiben. Glücklicherweise können wir solche Betrachtungsweisen und Beziehungsmuster ändern. Probiere folgende Reflexionsübung aus, wenn du dir einen Neuanfang wünschst und die Beziehungsdynamik verändern willst.
Reflexion: Mit freundlichen Augen schauen
Versuche diese Übung zu machen, wenn dein Kind schläft.
Setz dich still neben dein Kind, ohne seinen Schlaf zu stören.
Beobachte, wie dein Kind atmet. Wenn du magst, kannst du dein Ein- und Ausatmen mit dem deines Kindes in Einklang bringen.
Denke, ohne dich zu kritisieren, ehrlich darüber nach, wie du dein Kind siehst. Welche Gedanken und Gefühle tauchen jetzt, in diesem Moment, auf?
Oft sind unsere Gedanken neutral oder kritisch. Sagst du häufig »Warum ziehst du das heute in der Schule an?«, »Warum bist du so schlampig?«, »Musst du dich über alles beschweren, was ich sage oder tue?«, »Warum isst du dein Gemüse nicht?«
Wie reagierst du auf dein Kind, wie ist die Interaktion zwischen euch? Verurteile dich nicht, hacke nicht auf dir herum, sondern werde neugierig. Bemerkst du den Fleck auf einem T-Shirt oder das Feuerwehrauto, das noch im Wohnzimmer herumliegt?
Versuche, dein Kind zu sehen, als sei es das erste Mal so, als hättest du es noch nie zuvor gesehen. Verweile dort.
Was nimmst du wahr? Schau, ob du im Gesicht deines Kindes etwas Neues sehen kannst.
Bleib einen Moment bei der Verletzlichkeit deines Kindes. Sieh die Stärken und die Schwächen.
Was könnte sein Leiden verursachen?
Denk darüber nach, dass dein Kind, wie alle Wesen, glücklich sein möchte.
Kannst du zulassen, dass dein Herz weicher wird, wenn du dein Kind aus dieser neuen Perspektive siehst?
Margot praktizierte das ein paarmal und stellte fest, dass es ihr half, sich wieder mit den Dingen zu verbinden, die sie an Hannes liebte. Sie begann die Situation aus seiner Perspektive zu sehen – wie schwer muss es für ihn gewesen sein, als sie die strenge Bettruhe einhalten musste, als seine alte Familienstruktur aus den Fugen geriet oder als er sich deplatziert fühlte? Natürlich war er wütend und schlug über die Stränge. Jetzt konnte sie das sehen und wurde sanfter. Zum ersten Mal sah sie die Möglichkeit, dass ihr Ärger nicht Hannes ganzes Leben lang andauern würde.
Ich schlug vor, etwas gemeinsam zu unternehmen – nur zu zweit. Könnte der Papa das Baby am Wochenende ein oder zwei Stunden hüten, während sie besondere Zeit miteinander verbrachten?
Es bedurfte einiger Verhandlungen aber Hannes gefiel die Idee und er trug dazu bei, dass es klappte. Zuerst gab es zum Mittagessen eine Pizza, sein Lieblingsessen, in der Pizzaria um die Ecke. Danach spielten sie zusammen Fußball auf dem Spielplatz. Margot hatte in der Schule Fußball gespielt und konnte Hannes ein paar Tricks bei der Fußarbeit zeigen, die er nachzuahmen versuchte. Für sie fühlte es sich gut an, wieder einmal körperlich aktiv zu sein und Hannes war beeindruckt.
»Cool, Mama«, sagte er voller Bewunderung. »Das ist toll!« Die Zeichen standen auf Besserung.
Nur eine schlimme Erkältung
Es schien nur eine schlimme Erkältung zu sein. »Mach dir nicht so viele Sorgen, Valerie,« schimpfte ihr Mann. »Kinder kriegen laufend Erkältungen. Du überreagierst ständig.« Dem vierjährigen Matthis ging es allerdings miserabel. Er war so verschleimt, dass ihm das Atmen schwerfiel, er konnte nicht schlafen, hatte Schmerzen und war reizbar. »Schick ihn einfach in den Kindergarten. Das ist keine große Sache – mach keine Memme aus ihm.« Matthis war ihr erstes Kind und Valerie bekam schon ihr Leben lang zu hören, dass sie zu emotional sei. Also steckte sie Matthis in einen warmen Pullover, zog ihm Schal und Handschuhe an und brachte ihn in die Tagesbetreuung. Er hatte kaum Temperatur und sie musste arbeiten gehen. Ein paar Stunden später rief die Erzieherin an: »Matthis hat sich gerade übergeben. Sie müssen ihn abholen«, insistierte sie. »Großartig«, dachte Valerie, »soviel zu einem erfolgreichen Arbeitstag.« Als sie im Kindergarten ankam, war Matthis Temperatur erhöht. Er wirkte ungewöhnlich blass und apathisch, schien sich aber sehr zu freuen, sie zu sehen.
Sie gab ihm ein Mittel gegen das Fieber aber die Temperatur sank nicht. Sie stieg sogar noch. »Das ist nicht in Ordnung«, sagte sie zu ihrem Mann, »ich bringe ihn zum Arzt, da stimmt etwas nicht.« »Meine Güte, Valerie. Lass ihn sich gesund schlafen. Du kannst doch nicht spätabends die Ärztin anrufen. Und wir beide brauchen auch unseren Schlaf. Belästige sie nicht so spät, es ist doch nur eine Grippe.«
Als das Fieber am nächsten Morgen immer noch nicht gesunken war, musste Valerie bei ihrer Arbeitsstelle anrufen, um einen weiteren Tag frei zu nehmen. »Wie um Himmelswillen können die Leute ihre Jobs behalten, wenn sie Kinder haben?«, fragte sie sich. Sie war wütend, hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen und machte sich Sorgen. Das Fieber stieg weiter und Valerie brachte Matthis zur Kinderärztin. Er war apathisch, rang um jeden Atemzug und sein Herz raste. Die Kinderärztin untersuchte ihn und sagte in ruhigem aber ernstem Ton: »Fahren Sie mit ihm ins Krankenhaus, wir geben ihm sofort Medikamente. Und Valerie –«, die Ärztin hielt inne und legte eine Hand auf Valeries Schulter, »ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber fahren Sie bitte direkt ins Krankenhaus, fahren Sie nicht erst zu Hause vorbei.«
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