»Klingt gut«, wendest du vielleicht ein, »aber das ist nicht realistisch. Die Welt ist ein rauer Ort; wir alle werden ständig beurteilt. Es ist lebensfremd, zu denken, man könne immer freundlich und akzeptierend sein. Manchmal werde ich einfach wütend. Und wie bringt man Kindern bei, was richtig und was falsch ist? Wie kann man sie motivieren, ihr Bestes zu geben, wenn man keinen Druck macht? Und wir müssen an die Zukunft denken. Es ist einfach nicht machbar.«
Das sind alles sehr gute Fragen, denen ich mich noch widmen werde. Was ich vorschlage, ist ein radikal anderer Ansatz, Kinder zu erziehen, Mutter oder Vater zu sein: eine andere Art, mit unseren Kindern und uns selbst zu sein. Die meisten von uns sind daran gewöhnt, sich durch Kritik zu motivieren, und meinen, dass wir, wenn wir uns selbst anschreien und ausschimpfen, besser, effektiver, glücklicher und erfolgreicher sein werden.
Tatsächlich funktioniert Selbstkritik so gut wie nie. Kristin Neff, weithin bekannt für ihre umfassende Forschung über Selbstmitgefühl (siehe Kapitel 2), hat viel zu diesem Thema geschrieben. Selbstmotivation mit Freundlichkeit und Mitgefühl ist tatsächlich effektiver als der Einsatz von Kritik.4
»Ja klar, noch mehr Psycho-Blabla,« protestierst du und willst das Buch schon weglegen. Warte einen Moment! Diese Ideen haben auch einen Einfluss auf die Geschäftswelt. Der Wirtschaftswissenschaftler, Unternehmer und Philanthrop Charles Schwab schrieb: »Ich muss erst noch den Menschen finden, wie hochrangig seine Position auch sein mag, der in einem Klima der Zustimmung nicht besser arbeiten und sich stärker bemühen würde als in einem Klima der Kritik.«5
Wenden wir uns, um dies zu veranschaulichen, noch einmal Amélie zu, die mich nicht wegen einer Therapie konsultierte, sondern um »bei Verstand« zu bleiben, wie sie es ausdrückte. »Ich brauche keine Therapie«, protestierte sie, »sondern einen Eltern- und Erziehungscoach. Ich weiß nicht, was ich machen soll, meine Geschwister, die auch kleine Kinder haben, und meine Eltern sind viele Flugstunden entfernt. Ich habe keine Hilfe und ich will nicht die neuen Freundschaften mit anderen Eltern strapazieren, die sowieso rar sind.«
Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde Amélies Geschichte greifbarer. Sie war wegen des Jobs ihres Mannes an die Ostküste gezogen und hatte Freunde und Familie zurückgelassen. »Die Menschen hier sind so kalt wie das Wetter«, sagte sie traurig. »Und alle wirken so ausgeglichen. Ich fühle mich wie ein einziges Durcheinander«. Sie begann zu weinen. »Wir sind wegen Toms Arbeitsstelle hierher gezogen – nicht, dass er je da ist; er muss zweimal im Monat auf Geschäftsreise.
Und wenn er nach Hause kommt, ist er müde und hungrig und will, dass die Kinder nur Freude machen und das Haus picobello ist und dabei vergisst er, dass das Haus kein Hotelzimmer ist und es hier keinen täglichen Zimmerservice gibt …« Sie hielt inne und holte tief Luft. »Es funktioniert einfach nicht.« Sie schwieg einen Moment. »Ich kümmere mich um alle, ich schlafe nicht, ich bin einsam, ich esse, was die Kinder übriglassen, weil ich so viel zugenommen habe, aber jetzt laufe ich meistens hungrig durch die Gegend. Manchmal habe ich das Gefühl, so schnell durch meinen Alltag zu hetzen, dass ich kaum Luft holen kann. Aber was mir am meisten Angst macht, ist das Gefühl, dass ich mich selbst verliere und mein Gehirn nur noch Brei ist. Ich habe mein altes, kompetentes Selbst verloren. Niemand kümmert sich um mich. Ich brauche Hilfe – und zwar jetzt. An diesem schrecklichen Morgen, als mir das Benzin ausging und ich im Schnee zu einer Tankstelle laufen musste, sah ich das Schild, auf dem ›Rundum-Service‹ stand und ich fragte mich, ›werde ich mich je wieder ganz fühlen?‹ Oder werde ich mich für immer so ausgelaugt fühlen?«
Ich probierte die folgende Reflexionsübung mit Amélie aus, die ihr half, sich wieder mit dem Gefühl, kompetent zu sein, zu verbinden.
Hast du das Gefühl, dich verloren zu haben als du Mutter (Vater) wurdest? Nimm dir einen Augenblick Zeit und frage dich: »Wer bin ich?« Frage dich das wieder und wieder. Kam das Wort »Mutter« (Vater) in einer der ersten Antworten vor? Das ist wunderbar, aber wer bist du AUSSERDEM? Wir können diese unsere Essenz auch dann nicht verlieren, wenn uns das Elternsein überfordert.
Im Laufe der weiteren Arbeit fügte ich noch folgende Übung hinzu (angeregt von Christopher Germers Buch Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl ), die Amélie morgens nach dem Aufwachen praktizierte. Das ist eine großartige Ausgangsposition. Wir wissen, dass du viel zu tun und keine freie Zeit hast. Keine Sorge. Stell dir einen Küchenwecker, die Übung dauert nur drei Minuten. (Bitte erzähl mir nicht, du hättest keine drei Minuten).
Sich um sich selbst kümmern
Aufnahme 1
Nimm dir einen Moment Zeit, um eine bequeme Sitzhaltung zu finden.
Komm zur Ruhe.
Nimm deinen Atem wahr. Manchmal sind wir so beschäftigt, dass wir gar nicht realisieren, dass wir atmen. Wo ist der Atem? Wo nimmst du die Empfindung des Atmens am stärksten wahr? Konzentriere dich auf diese Stelle und spüre, wie der Atem ein- und ausströmt.
Lass dich einen Atemzug voll spüren.
Frage dich: »Wie merke ich, dass ich atme?«
Nimm die Empfindungen in deinem Körper wahr.
Was bemerkst du? Bist du hungrig? Müde? Welcher Emotionen bist du dir bewusst? Was fühlst du?
Genauso, wie du dein Kind in den Armen hältst oder wiegst, lass dich sanft von jedem Ein- und Ausatmen wiegen und halten.
Lass dich vom Ein- und Ausströmen des Atems beruhigen, trösten und erden.
Wenn du magst, kannst du eine Hand auf den Brustkorb legen oder je eine Hand auf Brustkorb und Bauch.
Spüre die angenehme Wärme der Berührung.
Atme fünfmal tief ein und aus. Ja, du hast Zeit für fünf Atemzüge. Du atmest ja sowieso.
Gib dir die Erlaubnis, dich um dich selbst zu kümmern, freundlich zu dir zu sein. Du verwendest soviel Zeit darauf, dich um andere zu kümmern, um die Bedürfnisse anderer. Nimm dir einen Moment für dich selbst. Was brauchst du?
Gib dir die Erlaubnis, zu essen, zu duschen, dich auszuruhen, innezuhalten und zu atmen.
Amélie probierte das ein paar Wochen lang aus. An manchen Tagen gelang es ihr nur für drei Atemzüge, aber auch das schien bereits zu helfen. Obwohl es ihr so simpel vorkam, hatte sie das Gefühl, dass es sie erdete.
»Manchmal bin ich so hektisch, dass ich vergesse zu essen oder keine Zeit zum Duschen finde. Ich war völlig ausgepowert. «Und jetzt erkenne ich, wie wahr die Redensart ist, mit der ich im Süden aufgewachsen bin: ›Wenn Mama nicht glücklich ist, ist niemand glücklich‹», sagte sie lachend. Ich kann nicht ohne Schlaf oder Essen auskommen und dann erwarten, dass es in der Familie gut läuft. Wenn ich nichts zu geben habe, leiden alle darunter. Ich habe erkannt – und das war ein Durchbruch für mich – dass ich nicht von anderen abhängig sein muss, um meine Batterien aufzuladen. Ich kann es selbst tun. Ich brauche weder meinen Mann, noch meine Geschwister oder Eltern, um mich zu stärken. Das war sehr befreiend.«
Es gibt viele Möglichkeiten, Achtsamkeit und Mitgefühl zu praktizieren. Nicht alle wollen still sitzen und nach innen schauen. Kein Problem. Eine Größe passt nicht für alle. Ich werde dir helfen, herauszufinden, was für dich funktioniert. Ich vermittele den Leuten gerne kurze Reflexionen, bei denen man sich einen Moment Zeit für sich selbst nimmt (vielleicht wenn die Kinder im Bett sind), und sich Gedanken über die eigenen Bedürfnisse und Wünsche macht. Nach dieser Übung kannst du notieren, was bei dir dabei aufgetaucht ist.
Reflexionsübung: Was brauche ich?
Читать дальше