Auffälligkeiten in der sozial-emotionalen Entwicklung lassen sich zwei Dimensionen zuordnen. Zum einen den externalisierenden Verhaltensweisen, bei denen die Probleme wie Unruhe oder Aggressivität nach außen gegen die Umwelt gerichtet sind, zum anderen den internalisierenden Verhaltensweisen, wie Rückzug oder Ängstlichkeit, die vor allem innerhalb der Person liegen (Bilz, 2008; 2014). Kinder mit internalisierenden Auffälligkeiten werden in der Schule leicht übersehen, und da ihre Symptome nicht einfach zu beobachten sind, stellen besonders diese psychischen Belastungen ein großes Entwicklungsrisiko dar. Internalisierende Störungen sind bei Jugendlichen unter 13 Jahren eher selten, sie treten in der Regel erst ab der Pubertät auf. Bis zu diesem Alter sind v. a. Jungen betroffen, ab 13 Jahren sind beide Geschlechter gleichermaßen vertreten, je nach Studie überwiegen dann sogar die Probleme bei Mädchen. Soziale Ängste gehören zu den internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten. In der Psychologie und in der Heilpädagogik hat sich nach (Fröhlich-Gildhoff, 2013) die Unterscheidung von externalisierenden und internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten durchgesetzt. Diese Kategorien sind empirisch abgesichert und akzeptiert. Dabei ist der Begriff »Verhaltensauffälligkeiten« ein Oberbegriff für eine Reihe von problematisierten Verhaltensweisen und keine Diagnose an sich (Wüllenweber, 2011).
Georg Stöckli, ein Experte im Thema Schüchternheit von der Universität Zürich, stellte in seiner langjährigen Arbeit immer wieder fest, dass trotz der beachtlichen Verbreitung bei Kindern im Schulalter Schüchternheit als schulisches und persönliches Problem kaum oder nur in besonderen Fällen gezielt angegangen wird und auch die Forschung sich häufiger um aggressiv-störendes Verhalten bemüht als um Schüchternheit (Stöckli, 1999). Seinen Artikel »Schüchterne leben in einer anderen Welt« in der Zeitschrift Grundschule untertitelt er mit folgender Aussage: »Schüchternheit ist mehr als ein oberflächliches Merkmal des Sozialverhaltens. Schüchternheit betrifft das Denken, die Emotionen, das Handlungsvermögen und die Selbst- und Fremdeinschätzung eines Menschen. Das Problem der Praxis liegt im fehlenden Bewusstsein für die Problematik schüchterner Kinder und in fehlenden Handlungsmöglichkeiten« (Stöckli, 2018, S. 6).
Aus dieser Erkenntnis heraus ist in Kooperation mit internationalen Expert/-innen unterschiedlicher Disziplinen, aus Wissenschaft und Praxis, dieses Buch entstanden, mit dem wir einen Beitrag zum Verständnis dieser »schüchternen Kinder« leisten wollen.
Im Anschluss an diese Einführung wird im Beitrag von U. Petermann der aktuelle Forschungsstand zum Phänomen Schüchternheit, dessen Ursachen sowie eine Darstellung eines sozialen Kompetenztrainings dargestellt. Ausgehend von beobachtbaren Phänomenen, durch welche sich das Verhalten schüchterner Kinder in sozialen Situationen beschreiben lässt, wird das gesamte Spektrum vom sog. unauffälligen, von den Erwachsenen meist tolerierten Verhalten, bis hin zu einer klinisch relevanten Symptomatik und den damit verbundenen Störungsbildern beschrieben. Die Entstehung und die ursächlichen Zusammenhänge werden unter dem Blickwinkel biopsychosozialer Risikofaktoren beleuchtet. Dabei werden in einem integrativen Modell sowohl bedingende wie auch die das sozial-unsichere Verhalten aufrechterhaltenden Faktoren erläutert. Daran schließen sich aktuelle Forschungsergebnisse zu Effektstärken von Präventionsprogrammen für ängstliche Kinder an.
Die nachfolgenden beiden Kapitel beleuchten das Phänomen aus systemischer Perspektive vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen: Der Beitrag von B. Gasteiger-Klicpera et al. befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen Schule, Migration und Geschlecht, während die Autorinnen Krauss et al. den Fokus auf Jugendliche mit internalisierender Symptomatik legen und deren Wohlbefinden und Belastungen in einer aktuellen Studie aufzeigen. Der erste der beiden Buchbeiträge bezeichnet Schüchternheit und soziale Ängstlichkeit als einen der wichtigsten Risikofaktoren der kindlichen Entwicklung, insbesondere zur Entstehung von internalisierenden Störungen wie Angst und Depression. Die Autor/-innen stellen aktuelle empirische Befunde zu den wichtigsten Risikofaktoren dar und bieten einen Überblick des aktuellen Forschungsstandes zum Zusammenhang von Schüchternheit und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Neben individuellen Aspekten wie Temperament werden vor allem auch sozio-kulturelle Einflüsse beschrieben. Besonders hervorgehoben werden dabei mögliche Einflussfaktoren wie das Geschlecht, ein Migrationshintergrund sowie die Qualität der Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler/-innen und der Einfluss des Klassenklimas. Zum letzteren stellen Gasteiger-Klicpera et al. Ergebnisse eines ihrer Forschungsprojekte vor. Der nächste Beitrag legt den Schwerpunkt auf das Jugendalter. In ihrer Untersuchung befassen sie sich A. Krauss et al. mit dem Wohlbefinden und der Anforderungsbewältigung von Jugendlichen mit internalisierenden Symptomen. Diese Studie untersucht die Situation von betroffenen Jugendlichen in Gymnasien und Berufsschulen in der Deutschschweiz hinsichtlich Unterschiede zu Jugendlichen ohne Symptomatik. Die Befunde unterstreichen dabei die Notwendigkeit, Jugendliche mit internalisierender Symptomatik in ihren Entwicklungsverläufen zu unterstützen. Auch wird von den Autorinnen hervorgehoben, dass die Schule einen zentralen Lern- und Erfahrungsraum darstellt. Abschließend zeigen sie die Vorteile von universellen gegenüber selektiven Präventionsprogrammen im Setting Schule auf, da bei den ersteren keine Stigmatisierungseffekte entstehen.
Einen großen Schwerpunkt legt das vorliegende Buch auf die unterschiedlichen Therapiemethoden. Der Beitrag von S. Melfsen und S. Walitza fokussiert die aktuellen Therapiemethoden zur kognitiv-behavioralen Behandlung von sozial ängstlichen Kindern und Jugendlichen. Die Autorinnen betonen die Bedeutung der Früherkennung sowie einer raschen therapeutischen Behandlung. Einleitend weisen sie darauf hin, dass insbesondere sozial ängstliche Kinder von den klassischen Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie deutlich weniger profitieren als Kinder mit anderen Formen von Angststörungen. In der Folge bieten sie einen Überblick über eben diese Therapiemethoden und stellen drei Programme von größerer internationaler Bedeutung vor. Es folgen Überlegungen zu Behandlungsparametern wie Einzelsetting vs. Gruppensetting bzw. zum Einbezug von Eltern und Familien. Die Autorinnen betonen in der Folge die Notwendigkeit, bestehende Therapieprogramme stärker den Betroffenen anzupassen. Besprochen werden kurzzeitige Intensivprogramme, Selbsthilfeprogramme, sog. Selbsthilfebücher sowie auch Online-Programme. Einen besonderen Stellenwert erhalten zudem die Themen Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die Zugänglichkeit zu Therapien grundsätzlich erleichtert werden muss.
Im nachfolgenden Kapitel zeigt M. Florin die Thematik von ängstlichen Kindern in der Schule vor dem Hintergrund eines personenzentrierten Verständnisses von Angst und Ängstlichkeit auf und leitet daraus Handlungsempfehlungen für Lehrpersonen ab. Beschrieben werden Auswirkungen von Ängsten auf das Lernen und Wohlbefinden der betroffenen Kinder. Die Entstehung von Ängsten wird aus drei Perspektiven erklärt: als Ausdruck von blockierter Aktualisierungstendenz, als Ausdruck von Inkongruenz sowie als Folge mangelnder positiver Beachtung. Die Autorin bezeichnet die Haltung der Lehrperson, die Beziehungsebene und das Klassenklima als die entscheidenden Faktoren für einen entwicklungsförderlichen Umgang mit schüchternen Kindern. Abgeschlossen wird das Kapitel mit zwei Übersichten, einerseits zu Indikatoren für einen angstfreien Unterricht, andererseits mit Materialien zur Angstbewältigung bzw. zur Förderung von Mut und Selbstvertrauen.
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