«Herr Ritter, Fiona ist von Berufes wegen international ausgerichtet, sehr kosmopolitisch. Sagt Ihnen der Name Kobayashi nichts?»
«Doch schon», versuchte sich Ritter entspannt zu geben, «als ehemaliger Formel-1-Fahrer für das Team Sauber, aber ich denke nicht, dass dieser Kobayashi auch euer Künstler ist. Auch nicht der Skispringer aus Japan», was für eine weitere leichte Entspannung sorgte.
Ein weiterer Name blieb trotz Nachhaken aus, entweder aus echter Unwissenheit heraus oder aber aus Furcht, dem Ermittler zu viel zu erzählen. Dieser wechselte deshalb das Thema, erkundigte sich, ob Fiona Decorvet «Feinde» oder «Ärger mit jemandem» hatte, im Bewusstsein, dass erfolgreiche Zeitgenossen immer mit Neidern konfrontiert wurden. Hier stiess er auf eine Mauer des Schweigens, was ihn nicht weiter zu erstaunen vermochte. Abgesehen davon stand er ja ganz am Anfang seiner Befragungen, weshalb er zurück auf die Herren Hämäläinen und Kobayashi zu sprechen kam. Viel erfuhr er nicht, nur, dass beide Liaisons – der Finne vor dem Japaner – jeweils ungefähr ein Jahr dauerten und nicht zuletzt deshalb scheiterten, weil weder der Skandinavier noch der Künstler aus dem Land der aufgehenden Sonne ihre Wohnorte verlassen und in die Schweiz wechseln mochten.
Um die vier Frauen nicht zu sehr zu strapazieren, bedankte sich Ritter und stellte in Aussicht, sie über den Verlauf der Ermittlungen zu informieren, erstmals am selben Abend, nach den Erkenntnissen der Durchsuchung mit den Spürhunden. Er erklärte ihnen auch, dass er sie übermorgen Dienstag gerne im Ringhof sprechen würde, einzeln, was zumindest gegen aussen zu keinerlei sichtbaren Verunsicherungen der vier Freundinnen von Fiona Decorvet führte.
Luzia Cadei hatte sich anerboten, als Transitstation zwischen Ritter und ihren Freundinnen zu amten. Ritter verabschiedete sich «vorläufig» von den Frauen. Auf seinem Handy-Display hatte er gesehen, dass Claudia Lüthi ihn zu erreichen versucht hatte. In diesem Moment kam auch Luigi Bevilaqua mit einem bereits ausgedruckten zweiseitigen Protokoll in englischer Sprache mit den Aussagen des Capitano zurück, damit «alles seine Ordnung hat». Darin stand schriftlich, was Ritter & Co. bereits selber erlebt hatten: Durchsage über die Lautsprecheranlage, die Auswertung der Videobänder, die Durchsuchung des Schiffs und weitere Einzelheiten.
Und dennoch konnte der Italiener mit einer neuen Erkenntnis aufwarten, denn auf einem bisher nicht visionierten Video war Fiona Decorvet um 21.13 Uhr während zwei Sekunden zu sehen, wie sie den Aussenbereich auf Deck 5 bei den Rettungsbooten betritt, ihre Aufmerksamkeit auf das Handy gerichtet, das sie in der Hand hält. Diese kurze Sequenz bestätigte jedoch nur, dass sie tatsächlich jene Zone betrat, in der ihre Handtasche gefunden wurde.
«J. R., wir sehen uns um 11.30 Uhr, das Schiff legt pünktlich nach Zeitplan im Cruise Center Steinwerder an. Der Capitano hat seine Security-Leute beauftragt, alle Passagiere, die von Bord gehen, also auch jene, die am Abend wieder aufs Schiff zurückkommen, genau mit den Fotos auf ihren Bordkarten zu vergleichen. Ich werde jetzt versuchen, mit einigen Offizieren zu sprechen, Man weiss ja nie …», vermeldete Bevilaqua. Ritter bedankte sich beim Mailänder für dessen Engagement.
Die fünf Kriminalisten trafen alle einige Minuten zu früh bei der Rezeption ein, der Berner informierte über den Stand der Dinge, wobei es zur eigentlichen Causa Decorvet keine Neuigkeiten gab, lediglich Informationen zu ihrem Privatleben. Zusammen mit unzähligen anderen Passagieren warteten sie anschliessend auf dem obersten Deck auf das Anlegen der Alberta Imperator. Capitano Enrico Tosso und seine Offiziere hatten keine Mühe, das Schiff zentimetergenau zu «parkieren», schliesslich hatten auch in der Schifffahrt längst Computer und Sensoren das Kommando über den Sextanten übernommen, sodass es eigentlich salopp ausgedrückt nur darum ging, die Navigationsvorgänge zu überwachen.
Holger Herrlich ging als Erster an Land, der nächste Passagier musste zwei, drei Minuten warten. Grund dafür war der Umstand, dass HH den bereitstehenden sieben Hunden der Spezialkräfte die vorhandenen Kleidungsstücke vor die Nase hielt, um eine Spur zu Fiona Decorvet aufnehmen zu können. Entsprechend schmal war denn auch der Durchgang, den die Passagiere zu beschreiten hatten. Selbstverständlich hatte Enrico Tosso zuvor über die Lautsprecheranlage bekanntgegeben, dass es «besonderen Umständen» wegen zu einer genaueren Personenkontrolle kommen werde. Die meisten Leute vermuteten beim Anblick der Deutschen Schäferhunde die Suche nach Drogen und stellten keine Fragen, liessen sich höchstens zu mehr oder weniger witzigen Bemerkungen verleiten.
Nach einer halben Stunde waren sowohl jene von Bord, die ihre Reise beendet hatten – wie Ruth Bär, mit zwei Rollkoffern, Luzia Cadei, Ruth Gnädinger und Prisca Antoniazzi –, als auch jene «Rückkehrer», welche für einige Stunden die Hansestadt besichtigen wollten, die meisten in Richtung Elbphilharmonie und dem in der Speicherstadt praktisch nebenan liegenden Miniatur Wunderland mit der grössten Miniatureisenbahnanlage der Welt.
Die Hundeführer betraten anschliessend mit ihren Tieren das Zugangsdeck, wo die «Schnüffler» nochmals die beiden Kleidungsstücke zu riechen bekamen. Ein Hund wurde ins Theater geführt, zu jenem Sessel, auf welchem Fiona Decorvet gestern Abend Platz genommen hatte. Zwei Schäferhunde führte man in den Aussenbereich von Deck 5, zu den Rettungsbooten, wo die leere Handtasche gefunden wurde. Die übrigen vier Vierbeiner teilten sich mit ihren Haltern auf: Zwei begannen auf dem untersten Deck in den Crew-Räumen wie Messe, allgemeine Anlagen und Kabinen, Letztere waren weit weniger luxuriös eingerichtet als die Passagierkabinen. Immerhin: Auf der Alberta Imperator teilten sich bloss zwei langjährige Crewmitglieder eine Kabine, zudem befanden sich diese aus Sicherheitsgründen über dem Wasserspiegel, zum Teil mit einem Bullauge ausgestattet, auch wenn es nicht geöffnet werden konnte, im Gegensatz zu ebenfalls vorhandenen Innenkabinen, die von Crewmitgliedern auf Ersteinsatz belegt waren, meistens Inder, Filipinos und Tamilen.
Es war keine Überraschung, verlief die Spurensuche auf diesem Crewdeck ergebnislos, sodass die Tiere eine Etage höher zum Einsatz gelangten, in den Personalräumen für Staff-Mitarbeitende, welche meistens in den Bereichen der Rezeption, der Fitness, der Animation und der Kinderbetreuung tätig waren, und Offiziere. Auch hier: Fehlanzeige. Als Nächstes kamen die Warenlager an die Reihe, diese Flächen waren durch die insgesamt acht Restaurants und zwölf Bars belegt.
François Hommard und Adalbert König hatten sich zuvor von ihren drei Kollegen in Richtung Flughafen Helmut Schmidt verabschiedet, nachdem ihnen das Trio Herrlich/Bevilaqua/Ritter unter Verdankung ihrer Hilfe mitgeteilt hatte, dass es für sie nichts mehr zu tun gebe.
Während die Hunde im Einsatz standen, kam Ritter endlich dazu, Claudia Lüthi anzupeilen. Diesen Anruf hatte er bewusst hinausgezögert, um genügend Zeit für seine Mitarbeiterin zu haben.
«Sorry, Claudia, ich wollte nicht unter Druck anrufen, deshalb erst jetzt. Und glaub mir, mit Desinteresse an deinen Erkundigungen hat das gar nichts zu tun …», begann er.
«J. R., das würde ich dir auch niemals unterstellen», lachte sie, «aber erzähl du mir zuerst den Stand der Dinge aus Hamburger Sicht», was Ritter stichwortartig auch ausführte.
«Jetzt aber zu dir. Stimmt es, dass Swisscom der Provider ist?»
«Ja. Aber es bedurfte schon der Hilfe der Staatsanwaltschaft, um an die Daten heranzukommen.»
«Knüsel?»
«Gut geraten, dein Max», was Ritter dran erinnerte, dass er erst seit einem Jahr mit Max Knüsel per Du war, auf dessen Vorschlag hin, anlässlich der Recherchen in Zusammenhang mit dem Doppelmord am Wohlensee, zu dem sich noch ein dritter in Genf gesellte.
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