Besucher dürfen deshalb die vorgeschriebenen Pfade nicht verlassen, dürfen nichts vom Boden aufheben, die benutzten Schuhe wirft man nach dem Besuch am besten gleich weg. Der Besuch des Geländes ist einzig mit örtlichen «Reiseleitern» ab Kiew möglich, es gibt bis nach Prypjat drei scharfe militärische Kontrollen.
«Ich selber bin kein Gegner von Atomenergie, denke auch, dass die Kernkraftwerke in Deutschland und auch in der Schweiz auf einem technisch anderen Niveau als die alten UdSSR-Reaktoren sind, dennoch hat mich der Besuch betroffen gemacht. Erinnern wir uns: Es war menschliches Versagen, das zur Katastrophe geführt hat. Wäre das theoretisch nicht auch bei uns in Westeuropa möglich? Nicht alle AKW sind über jeden Zweifel erhaben …», sagte HH, ohne jedoch seinen französischen Kollegen anzuschauen.
«Das möchten wir uns nicht vorstellen», sagte Ruth Gnädinger, «im 30-Kilometer-Radius von Mühleberg liegen zum Beispiel Fribourg, Bern und Thun, um nur diese zu nennen.»
«Stimmt, und diese müssten von einem Tag auf den anderen aufgegeben werden. Dieses Chaos wäre beispiellos.»
«Verkehrszusammenbruch, Plünderungen, Aggressionen mit vielen Toten.»
«Frau Gnädinger, denken wir die Sache lieber nicht zu Ende. Was verblüffend ist: Überall in Prypjat hat sich die Natur zurückgemeldet, durch Beton und Asphalt hindurch. Zum Teil sieht man gewisse Gebäude gar nicht mehr, weil sie inzwischen hinter hohen Bäumen versteckt sind.»
«Also wie in Franz Hohlers Die Rückeroberung.»
Denkmal für jene Männer, die zuerst an die Arbeit mussten, die sogenannten «Liquidatoren» …
Holger Herrlich reichte während seines Vortrags zum besseren Verständnis Fotos vom Sarkophag und von Prypjat auf seinem Handy herum. Nach diesen Ausführungen nahm Joseph Ritter den Faden wieder auf, um den Kreis zu schliessen, direkt in Richtung Victorija Rudenko, wollte von den Damen nochmals – und mit Nachdruck – wissen, ob es nicht zuletzt wegen Nazar Klitschko «atmosphärische Störungen» zwischen Inhaberin und Geschäftsleiterin der Zürcher Niederlassung gebe, was wiederum verneint wurde, womit sich der Berner Kriminalist aber nicht zufrieden gab, nicht zufriedengeben konnte.
«Frau Bär, jetzt erleben Sie live, wie hartnäckig Ermittler sein können. Erinnern Sie sich noch, aus welchen Gründen und unter welchen Umständen Frau Rudenko eingestellt wurde?»
«Fiona, also Frau Decorvet, ist diese Verpflichtung nicht eingegangen, ohne vorher Erkundigungen über Frau Rudenko einzuziehen, die Auskünfte waren hervorragend, weshalb die Frau nach einer sechsmonatigen Probefrist fest angestellt wurde. Zur vollen Zufriedenheit von Fiona», worauf Ruth Gnädinger und Luzia Cadei beide mit einem «Ja, das stimmt» die Worte ihrer Freundin bestätigten.
«Moment mal, meine Damen … Da verabschiedet sich also ein Ehemann in Richtung einer Angestellten seiner Ehefrau und dennoch ist alles Friede, Freude, Eierkuchen? Ich bitte Sie …»
«Also, es ist so, Herr Ritter …», erwiderte Prisca Antoniazzi zögerlich.
«Jetzt bin ich aber gespannt, Frau Antoniazzi, wie ist es denn so ?», worauf sogar die Schauspielerin leicht errötete, als stünde eine Beichte grösseren Ausmasses bevor.
«Nun, wie soll ich es sagen?»
«Am besten, wie es halt so ist», insistierte Ritter.
«Fiona hat zu Männern eine eher ungewöhnliche Beziehung. Ihre erste Ehe war ein Aufbegehren ihren Eltern gegenüber, jene mit Nazar Klitschko als gutaussehendem Diplomat auf der Botschaft der Ukraine in Bern als eine Türöffnung in Richtung Haute Volée zu sehen. Ich denke nicht, dass gross Liebe im Spiel war, deshalb schliesslich auch das Laisser-faire mit Victorija Rudenko.»
Nach dieser Bemerkung geschah Erstaunliches, denn plötzlich begannen die vier Damen über das Liebesleben von Fiona Decorvet zu reden, zögerlich zwar nur, sozusagen hinter vorgehaltener Hand, aber Ritter erfuhr dennoch das eine oder andere, das als Puzzleteil bei allfälligen Ermittlungen von Nutzen sein konnte. Dass die Vermisste momentan zumindest in einer «vorübergehenden Beziehung» stand, so Prisca Antoniazzi, schien ausser Frage zu stehen. Begründet wurde diese Aussage mit der Feststellung, dass man sich mit Fiona Decorvet in den letzten Wochen nur schwerlich verabreden konnte, «etwas, was sonst die normalste Sache der Welt ist», wie Ruth Bär ergänzte.
Weil sie das Privatleben der Galeristin nicht gross interessierte, verabschiedeten sich die übrigen drei Herren von der Tischrunde, um noch eine Weile auf Deck zu gehen. Joseph Ritter verabredete sich mit ihnen um 11.30 Uhr bei der Rezeption, in Erwartung der Ankunft der Hamburger Kollegen mit ihren Suchhunden. Diese Verabredung erging sicherheitshalber auch an Luigi Bevilaqua als SMS.
Joseph Ritter begann, gezielte Fragen zu stellen, um sich in der noch zur Verfügung stehenden Zeit ein möglichst klares Bild von Fiona Decorvet zu machen, damit er mit seinem Team – Claudia Lüthi, Elias Brunner und Stephan Moser – aufgrund konkreter Ansätze arbeiten konnte. Je nach Ausgangslage musste auch der Kriminaltechnische Dienst KTD der Kantonspolizei miteinbezogen werden, Eugen «Iutschiin» Binggeli und Georges «Schöre» Kellerhals, ebenso die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland in der Person von «Staatser» Max Knüsel, auch für Schwarzenburg zuständig. Wenig wahrscheinlich schien hingegen die Kontaktnahme mit Veronika Schuler, Rechtsmedizinerin beim Institut für Rechtsmedizin Bern IRM, da es aller Voraussicht nach keine Obduktion vorzunehmen galt. Ritter ertappte sich dabei, vom eigentlichen Thema abgeschweift zu sein.
«Kann mir jemand von Ihnen die Namen von Männern nennen, mit denen Frau Decorvet in den letzten Monaten oder Jahren liiert war?»
«Herr Ritter, das tönt beinahe so, als würde Fiona ihre Partner regelmässig wechseln», ereiferte sich wiederum Ruth Bär.
«Frau Bär, seien wir ehrlich, wir alle stehen doch vor einer Blackbox, für Sie als beste Freundinnen ist das Verschwinden ebenso rätselhaft wie für mich. Wenn wir ihren Weggang aus dem Theater nach dem Lesen einer SMS mit dieser Meldung in Zusammenhang bringen müssen, so ist von nun an alles wichtig, da können wir gar nichts ausklammern. Also: Können Sie mir Namen nennen, möglichst mit weiteren Informationen?»
«Haben Sie schon daran gedacht, jenen Absender ausfindig zu machen, der ihr gestern kurz nach 21 Uhr eine Message geschrieben hat? Danach ist sie ja aufgestanden und gegangen», stellte Ruth Gnädinger ihre Hilfe zur Verfügung.
«Ja, Frau Gnädinger, meine Mitarbeiterin erkundigt sich beim Provider, nur dauert das meistens mehr als bloss zwei, drei Stunden. Ich hoffe nur, es habe sich nicht um ein Prepaid-Handy gehandelt, sonst wird die Aufgabe fast unlösbar», gab Ritter zu bedenken.
«So viel ich weiss», antwortete Ruth Gnädinger, «hat Fiona nur ein Handy und das ist bei der Swisscom registriert», worauf die übrigen drei Damen nickten.
«Wie gesagt, wir sind an der Sache dran. Jetzt wäre ich um Namen froh», worauf das grosse Schweigen begann, denn keine der vier Freundinnen wollte als Petzerin gelten, als Schnuriwyb.
Prisca Antoniazzi war die Erste, die ihre Zunge lockerte, verbunden mit der Bitte, dass «dies alles unter uns bleibt», was der Leiter des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei zu bestätigen vermochte. Der Name von Leevi Hämäläinen fiel als Erstes, ein erfolgreicher Architekt aus Jyväskylä in Finnland. Ritter bat Prisca Antoniazzi darum, Namen und Ortschaft zu buchstabieren, damit er korrekte Angaben auf seinem Aufnahmegerät hatte. Hämäläinen hatte erst vor drei Jahren die Innenräume der Villa von Fiona Decorvet in Schwarzenburg neu gestaltet, in modernem skandinavischem Stil mit sehr viel Holz und dazu passenden Materialien. Offenbar hatte der Finne die neuen Räumlichkeiten für eine gewisse Zeit gleich selber mit Fiona Decorvet geteilt, wie sich Prisca Antoniazzi recht vornehm ausdrückte. Haruki Kobayashi folgte als nächster Name, ein bekannter japanischer Performance-Künstler, der abwechslungsweise in Kobe und Paris lebte. Ritter liess sich auch diesen Namen buchstabieren, verbunden mit der Frage, ob es auch Schweizer mit entsprechenden Namen im Leben der Bernerin gab, à la Housi Knecht oder Franz Gertsch, was den vier Frauen für einen Augenblick ein Schmunzeln entlockte.
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