Gott sei Dank, dachte er noch. Nikita war aus Fleisch und Blut und sah überirdisch schön aus. Wie aus einer anderen Welt kommend, nicht wahr?, flüsterte es in ihm. Und dann dachte er, dass das ja auch stimmte. Er kannte durchaus intensive, sehr lebendige Träume, aus denen er manchmal schweißgebadet aufwachte und dann quälende Minuten brauchte, um herauszufinden, was von all dem zuvor Durchlebten Realität war.
HEUTE NACHT TRÄUMTE ICH, ICH SEI EIN SCHMETTERLING. UND NUN WEISS ICH NICHT, BIN ICH EIN SCHMETTERLING, DER TRÄUMT, ER SEI CHUANG TSE, ODER BIN ICH CHUANG TSE, DER TRÄUMT, ER SEI EIN SCHMETTERLING.
Dieser, in Großbuchstaben auf goldfarbenem Büttenpapier gedruckte Spruch eines chinesischen Weisen, der angeblich vor mehr als zweitausend Jahren lebte, stand noch in dunklem Holz gerahmt an einer Wand des Schlafzimmers gelehnt. Er würde ihn, so beschloss er in diesem Moment, noch vor allen anderen Bildern, die er in seinem neuen Haus noch aufzuhängen hatte, gleich neben der Tür zum Badezimmer anbringen. Vom Fußboden neben seiner Seite des Bettes hörte er Sams tiefe gleichmäßigen Atemzüge. Der große Wolfshund durfte seit der Rückkehr auch die Nacht in seiner Nähe verbringen, wie er es auf der abenteuerlichen Reise immer getan hatte. Vorher war das Schlafzimmer, genauso wie das Bad, seine Tabuzone gewesen. Nun aber war der von Sendo liebevoll geflochtene Weidenschlafkorb mit dem Lammfell, der im Hauseingang gleich hinter der Tür stand und ein sehr komfortables Hundebett abgab, verwaist.
Auf Effels Nachttisch lag die Alraunenwurzel, die ihm Perchafta geschenkt hatte und die ihrer Form nach beinahe etwas Menschliches hatte. Er wusste, dass diese Pflanze äußerst selten war, und selbst wenn man sie gefunden hatte, war man ihrer noch lange nicht habhaft. Ihr wurden magische und heilende Kräfte zugesprochen und es sollten schon merkwürdige Dinge geschehen sein, wenn man bei ihrer Ernte nicht ganz bestimmte Rituale sehr genau eingehalten hatte. Doch von dem Krull hatte er noch mehr erfahren: Irgendwann würde sie ihm einmal von großem Nutzen sein. Seitdem trug er sie tagsüber immer bei sich und auch nachts bewahrte er sie sorgsam in seiner Nähe auf.
Effel schlug die Bettdecke zurück, stand auf, trat mit drei Schritten an das Fenster und öffnete es leise. Sam erwachte, fand alles in Ordnung, legte seinen Kopf wieder auf eine Vorderpfote, tat einen zufrieden klingenden Seufzer und schlief weiter.
Die Nacht, in der es geregnet hatte, wich allmählich dem Tag. Am Horizont ging die Sonne auf. Ganz sanft erfüllte sie den Himmel in feurigen Tönen. Wolken ritten auf dem kühlen Herbstwind und erste Vogelstimmen waren zu hören. Der nahe Wald, jetzt noch in dunklem Grau, aus dem langsam weißer Nebel stieg, bildete einen starken Kontrast zum Rest des Himmels. Es würde nur noch wenig Zeit verstreichen, bis er im vollen Licht der Sonne seine ganze Farbenpracht zeigen würde.
Der frühe Morgen war seine liebste Tageszeit. Er hatte es sich schon vor Jahren zur Gewohnheit gemacht, noch vor dem Frühstück zusammen mit Sam eine halbe Stunde oder länger durch den Wald zu laufen. Heute tat er das nicht, denn er wollte jeden Moment mit Nikita genießen. Gerade erinnerte er sich daran, was Perchafta während ihrer gemeinsamen Reise an einem Abend gesagt hatte: »Wenn etwas zur Gewohnheit wird, egal was es ist, sei es noch so gesund oder meditativ, kann es schädlich sein. Unterbrich ab und zu den Rhythmus, dann bleibst du wach. Gewohnheiten verleiten zum Schlafen ... und auch von gesunden Dingen kann man abhängig werden.« Dabei hatte er wieder sein verschmitztes Schmunzeln gezeigt.
Das war nicht das einzige Mal, dass er Effel dazu gebracht hatte, eine Überzeugung in Frage zu stellen. Die Begegnung mit Perchafta gehörte, und da war er sich vollkommen sicher, zu den wichtigsten seines Lebens. Bis vor Kurzem hatte er zwar hin und wieder von der Existenz dieser seltsamen Wesen gehört, aber noch nie eines von ihnen gesehen. Ihm war schnell klar gewesen, dass Perchafta damals, am ersten Tag seiner Reise, von ihm erkannt werden wollte. Nachdem der weise Gnom dann sein Begleiter geworden war, hatte Effel auch andere Krulls sehen können und deren warmherzige Gastfreundschaft genossen. Er hatte viele ihrer erstaunlichen Fähigkeiten selbst erfahren. Dass das längst noch nicht alle waren, sollte die Zukunft ihm noch zeigen.
Mindevol, der Dorfälteste, hatte nach seiner Rückkehr mit einem wissenden Augenzwinkern zu ihm gesagt: »Na, mein Lieber, die gemeinsame Zeit mit Perchafta hat dich verändert, nicht wahr? Im Außen war deine Reise zwar kurz, im Innen war sie dagegen um einiges länger ... und tiefer gehend. Die Begegnung mit Nikita hat sicherlich dazu beigetragen, aber das ist eine andere Geschichte.« Die noch längst nicht zu Ende ist und in der du noch eine Menge dazulernen wirst, sagte er ihm nicht.
»Du hast völlig recht, Mindevol. Perchafta ist ein Geschenk. Er verbindet Lernen mit unmittelbaren Erfahrungen, mit tief gehenden und manchmal auch recht heftigen Erfahrungen. Manchmal hatte ich das Gefühl, als wüsste er immer, was passieren wird ... so als ob er die Situationen erschaffen würde. Ich habe mich immer sicher gefühlt ... auch wenn ich während meiner Innenreisen an weit entfernten Orten und in anderen Zeiten gewesen war, habe ich immer gespürt, dass er bei mir ist. Er zeigt eine große Präsenz bei allem, was er tut oder sagt.
Das größte Geschenk aber ist die Begegnung mit Nikita und ich hoffe sehr, dass dieses Erlebnis noch lange andauert. Dass du mich für diese Mission ausgewählt hast, werde ich dir mein Leben lang danken, egal was noch geschieht.«
»Danke nicht mir, danke dir selbst, Effel. Wenn du dich nicht auf alles eingelassen hättest, wäre nichts geschehen. Ich wusste ja, dass du wissbegierig bist ... und mutig«, fügte er lächelnd hinzu, »immerhin kenne ich dich ja schon eine ganze Weile.«
Und du wirst noch sehr viel mehr Mut brauchen, fügte er noch im Stillen an.
Wie schön es hier ist, ging es Effel gerade durch den Kopf. Er hatte von Mindevol gelernt, auch Altbekanntes immer mal wieder mit neuen Augen zu betrachten. Und nach einer kleinen Pause, in der er seinen Blick über Seringat schweifen ließ, dachte er: Ich werde alles dafür tun, dass Flaaland so friedlich bleibt, wie es ist ... sofern es in meiner Macht liegt. Er schaute zu dem breiten Doppelbett hinüber, wo Nikita im Schlaf gerade leise stöhnte, als ihn ein anderer Gedanke anflog. Würde ich in deiner Welt leben können und ... wollen, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe? Würde ich für dich das alles hier aufgeben? Er schüttelte diese Vorstellung so schnell wieder ab wie ein lästiges Insekt. Wenn es wirklich einmal so weit kommen sollte, könnte er immer noch darüber nachdenken, obwohl er eine leise Ahnung davon hatte, wie er sich entscheiden würde. Aber im Moment zählte nur das Hier und Jetzt.
Unten im Dorf krähte ein Hahn. Zunächst zaghaft und leise, so als wolle er überprüfen, ob seine Stimme noch funktioniert, dann lauter. Unmittelbar darauf antwortete ihm ein zweiter, offenbar noch verschlafen, dann ein dritter. Innerhalb kurzer Zeit war daraus ein Konzert geworden, in das bestimmt jeder Hahn des Dorfes eingestimmt hatte. Und es schien so, als versuchte dabei jeder, alle anderen an Lautstärke zu übertreffen. Manche Stimmen überschlugen sich im Übereifer, worüber Effel innerlich leise lachen musste.
Fast so, wie manchmal auf unseren Versammlungen, dachte er und erinnerte sich an den letzten April, als beraten worden war, wie man auf die Vertragsverletzung der Anderen reagieren sollte. Nach dem überraschenden Besuch von Schtoll, der mitten im Winter nach langer Reise mit eisigem Bart vor Mindevols Haus gestanden hatte, um Verbündete zu suchen, war der Ältestenrat einberufen worden. Bis auf wenige, die krank oder anderweitig verhindert waren, waren alle gekommen und Effel konnte sich noch gut an die stickige Luft im Saal erinnern, den man trotz der winterlichen Kälte gar nicht hätte zu heizen brauchen.
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