Die Krulls hegten aber immer noch die Befürchtung, dass die Anderen in Wirklichkeit an dem interessiert waren, was von den Siegeln von Tench´alin in dem weitläufigen Höhlensystem der Agillen beschützt wurde. Käme dieser Schatz in den Besitz der Neuen Welt und dort in die falschen Hände, würde das Konsequenzen unvorstellbaren Ausmaßes haben. Nach Erkenntnissen der Krulls und ihrer Bundesgenossen verfügte man zwar inzwischen über die technischen Möglichkeiten, mit den Geheimnissen, die von den Siegeln verschlossen wurden, zu experimentieren, war aber in der geistigen Entwicklung noch weit davon entfernt, die ganze Tragweite solcher Experimente zu erkennen.
Effel, ein junger Mann der Alten Welt aus dem Dorf Seringat, war vom Ältestenrat seines Volkes ausgewählt worden, um den feindlichen Übergriff zu verhindern. Der mächtige Krull Perchafta hatte sich ihm zu erkennen gegeben und war sein Reisebegleiter, weiser Ratgeber und Lehrer geworden.
Als Effel gerade zwölf Jahre alt geworden war, hatte Mindevol ihn unter seine Fittiche genommen und war sein spiritueller Lehrer und Mentor geworden. Wann immer es seine Zeit neben Schule, Ausbildung und anderen Pflichten erlaubt hatte, hatte der Junge den Dorfältesten besucht, der ihn auch manchmal auf eine seiner kurzen Reisen in die Nachbargemeinden mitnahm. Seine Kameraden verbrachten ihre Freizeit derweil auf dem Bolzplatz oder streunten einfach so in der Umgebung herum, die immer ein Abenteuer bereithielt, bei dem sie sich beweisen konnten.
Als Mitglied des Ältestenrates der Kuffer wurde Mindevol oft als Ratgeber oder Schlichter bei Streitigkeiten hinzugezogen und Effel hatte in den Verhandlungen stets aufmerksam zugehört. Im Anschluss hatten sie auf dem Rückweg über das Geschehene gesprochen, vor allem über die Gründe, die Mindevol zu dieser oder jener Entscheidung veranlasst hatten. Immer wieder hatte sich der Alte über die tiefsinnigen Gedankengänge des Jungen gewundert. Dessen kluge Fragen hatten ihn überzeugt, mit Effel die richtige Wahl getroffen zu haben.
»Mira«, hatte er eines Abends zu seiner Frau gesagt, »aus dem Jungen wird mal etwas Besonderes. Er ist eine alte Seele mit einer großen Bereitschaft dazuzulernen.«
»Ich weiß«, hatte sie dann lächelnd zur Antwort gegeben.
Effels Eltern waren nach anfänglichen Bedenken, vor allem weil seine beiden Geschwister so ganz anders waren, stolz auf ihren Sohn gewesen. Die Zeit bei Mindevol und Mira schien ihn nicht von anderen wichtigen Dingen abzulenken, er blieb mit beiden Füßen auf der Erde, wie sein Vater einmal bemerkt hatte, und so hatten sie voller Freude seine weitere Entwicklung beobachtet.
Anfangs waren für Effel viele der Lehren schwer nachzuvollziehen gewesen. Von wirklichem Verstehen konnte lange Zeit keine Rede sein. Erst nach und nach war es einfacher geworden – und einleuchtender. Seine Lehrer hatten ihn immer wieder auf die Zusammenhänge zwischen allen Dingen dieser Welt aufmerksam gemacht und neben vielem anderen gelehrt, dass es so etwas wie Zufall überhaupt nicht gibt. Besonders das Resonanzgesetz hatte es seinem Lehrer Mindevol angetan. Wann immer sich eine Möglichkeit ergab, sprach er darüber.
»Wenn wir ein Ereignis nicht verstehen, sagen wir, es sei Zufall, weil das bequemer ist«, hörte er seinen alten Mentor öfter sagen, »oder weil wir dann glauben, nicht die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen. Aber die Dinge hängen nun einmal zusammen – ausnahmslos, Effel. Es ist wichtig, dass du das erkennst. Alles bedingt sich und ist voneinander abhängig. Die Menschen und die Tiere, die Bäume und die Blumen, die Flüsse und die Meere, die Sterne und die Wolken. Zufall ist, wenn der liebe Gott inkognito kommt. Die Dinge gehen in Resonanz zu uns und es ist lohnenswert, sich dies immer wieder bewusst zu machen. Je offener du für diese Erkenntnisse wirst, je bewusster du wirst, desto mehr kannst du daraus lernen. Weisheit kommt nicht durch Erfahrung, sonst wäre ja jeder alte Mensch weise. Wir werden weise, weil wir das Erfahrene reflektieren. Lebendige Erfahrung umfasst auch konsequentes Handeln. Niemand ist weise, nur weil er etwas weiß.«
Dann hatte er sich wieder irgendeiner Tätigkeit zugewandt und seinem Schüler die Gelegenheit gegeben, das Gesagte zu verarbeiten. Effel hatte es damals nicht in seiner ganzen Tragweite verstanden. Auch heute gab es manchmal noch Situationen, die es ihm schwer machten, an dieses universelle Gesetz zu glauben. Aber damals wie heute war er bemüht, die Lehren des Dorfältesten nicht nur zu akzeptieren, sondern sie auch in sein Denken und vor allem in sein Handeln zu integrieren. Die Begegnung mit Perchafta hatte ihn darin noch bestärkt.
Im entscheidenden Moment war Effel aber auf sich alleine gestellt gewesen, genauso wie Nikita, die von Professor Rhin mithilfe einer von BOSST entwickelten Brille aus der Ferne begleitet worden war. Erst kurz vor dem Ziel waren Nikitas Erinnerungen an ein früheres Leben wie eine Sturzflut über sie gekommen und sie hatte den Eingang zu dem geheimnisvollen Tal Angkar-Wat und auch zu den Höhlen von Tench´alin gefunden.
Professor Rhin war damals mehr als erstaunt gewesen, als sein Chef, Mal Fisher, ihm eröffnet hatte, man habe sein jüngstes Teammitglied, Nikita Ferrer, dazu ausersehen, die Pläne des Myon-Neutrino-Projektes aus der Alten Welt zu beschaffen. Vor allem, als er den Grund hierfür erfahren hatte. Seine junge, aufstrebende Mitarbeiterin war eine Walk In, die angeblich in einem früheren Leben die Pläne, die für seine Welt so sehr viel bedeuteten, schon in Händen gehabt haben sollte. Woher man das wusste, darüber hatte der Professor noch gar nicht nachgedacht. Viel zu aufregend war die Aussicht gewesen, solche Pläne bald besitzen zu können. Er hatte damit begonnen sich auszumalen, was das für seine wissenschaftliche Reputation bedeuten würde. Sein hohes Ansehen, das er bereits genoss, würde ins Unermessliche steigen. Es wäre die Krönung all dessen, wofür er lebte. Alles, was er seiner Karriere je geopfert hatte, würde einen Sinn bekommen. Jetzt durfte nichts mehr schiefgehen. Er würde Tag und Nacht wach bleiben und seine junge Mitarbeiterin mithilfe der MFB, der von ihm entwickelten Multifunktionsbrille, begleiten. Er hatte gleich geahnt, dass die junge Nikita Ferrer die Richtige war. Als sie ihm beim Einstellungsgespräch gegenüber gesessen hatte, hätte er ihre ausgezeichneten Zeugnisse nicht mehr zu sehen brauchen. Er hatte sogar für einen kurzen Moment geglaubt, ihre Aura sehen zu können. Gemessen hatte er diese schon bei vielen Menschen, die Geräte dazu hatte er selbst bis zur Perfektion weiterentwickelt.
Der Plan Mal Fishers war aufgegangen, Nikita hatte sich wirklich erinnert. Was er nicht hatte einplanen können, war, dass Nikita vielleicht gar keine Lust mehr haben könnte, wieder heimzukehren.
In Effels Heimat waren inzwischen merkwürdige Dinge geschehen. Vincent, der Sohn des reichen Farmers Jared, war nach einem missglückten Mordversuch an der Seherin Brigit in die Berge geflohen und hatte dort ebenfalls zufällig den Zugang zum Tal Angkar-Wat entdeckt. Er war aber von einem der Wächter getötet worden.
Nikita und Effel hatten schließlich eine für sie schicksalhafte Begegnung in dem Tal und waren bald darauf als Paar nach Seringat zurückgekehrt. Über die Pläne und den Vertragsbruch aber sollte vom Rat der Welten demnächst entschieden werden. Die Versammlung sollte im Tal Angkar-Wat stattfinden.
* * *
Zärtlich berührte er im Halbdunkel ihr Gesicht. Er wollte sich vergewissern, dass diese Frau, die neben ihm lag und schlief, nicht das letzte, für immer unvergesslich bleibende Bild eines soeben verblassten, wunderschönen Traumes war. Erleichtert reckte er sich und atmete tief. Er lächelte, denn damit stand für ihn fest, dass auch die letzten erlebnisreichen Tage Wirklichkeit gewesen waren.
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