Jemand, der eine materialistische Sichtweise verinnerlicht hat, seinen Lebenssinn ganz in dieser Welt sieht und sich völlig mit dem Körper identifiziert, stirbt im Glauben, dass der Tod das Ende von allem sei. Aber dem ist natürlich nicht so. Diese Seelen sind nach dem Exitus selbstverständlich überzeugt davon, noch zu leben. Sie verstehen lange nicht, dass sie gestorben sind, und bleiben deshalb länger erdgebunden und versuchen, sich bemerkbar zu machen. Es gibt immer mehr Fälle dieser Art – besonders wenn die Menschen durch einen Unfall, also plötzlich, aus dem Leben gerissen wurden.
Die spirituelle Praxis des Chöd Praktizierende haben sich darin geübt, ihren Körper zu verlassen, von oben herab der Zerstückelung ihres Körpers durch imaginierte Opferungsgöttinnen zuzuschauen und wie diese ihr Fleisch und Blut dann allen Wesen zu opfern. Sie mögen deshalb zu einem solchen Opfer ihrer Organe, von großem Mitgefühl motiviert, fähig sein.
Für andere aber kann die Szene der chirurgischen Organentnahme aus ihrem noch lebendigen und fühlenden Körper, der sie im Operationssaal beiwohnen, zu starken Gefühlen der Irritation, der Abwehr und des Ärgers führen. Negative Gefühle jedoch können leider im entscheidenden Augenblick des Todes und des Übergangs eine schlechte Wiedergeburt bewirken, so lehrt es das Totenbuch.
Die wenigsten Menschen wissen, dass Organspender mit den stärksten Schmerzmitteln betäubt und auf dem OP-Tisch festgebunden werden müssen, weil sich ihr Körper immer wieder aufbäumt und gegen den Eingriff wehrt. Der Patient, dessen Hirntod festgestellt wurde, ist nicht tot, sondern stirbt erst durch die Organentnahme. Organe werden sehr teuer gehandelt, die Transplantationschirurgie ist äußerst lukrativ, und die Medikamente, die die immunologische Abstoßung der Spenderorgane unterdrücken sollen, kosten jährlich pro Patient ein Vermögen.
Es gab auch immer wieder Patienten, bei denen »der Hirntod« festgestellt, aber keine Organe entnommen wurden, die nach adäquater Behandlung des verletzten Gehirns und Wochen oder Monaten der richtigen Pflege wieder aufwachten und völlig gesund wurden.
Der Tod wird dem materialistischen Glaubenssystem entsprechend entweder positiv als Erlösung von allem Leid oder negativ als endgültige Auslöschung der eigenen Existenz gesehen, und beides ist falsch. Der Geist stirbt nicht, sondern nur der menschliche Körper, eine seiner vielen möglichen Formen. Er wird mit seinen Gedanken, Emotionen und Wünschen wieder Form annehmen, und deshalb wird sein Zustand beim Sterben als bestimmend für seine künftige Existenz gesehen.
Wird Sterben als Katastrophe und der Tod als Feind des Lebens gesehen, der einem alles entreißt, was einem lieb und wert ist, so muss er unbedingt und um jeden Preis verhindert und hinausgeschoben werden. Das gebräuchliche Vokabular im Umgang mit Krankheit und Tod ist deshalb martialisch. Man muss gegen sie kämpfen und sie endgültig besiegen. Krankheit ist ein Fehler im System, den man beheben muss, der aber keinen Sinn hat, der einen etwas lehren könnte. Die Medizin suggeriert zunehmend, dass man schließlich alle Krankheiten heilen können wird, wenn nur die Freiheit der Forschung nicht mehr durch »ethische Grenzen« behindert wäre. Aber solange die Ursachen von Leid nicht durch innere Arbeit im Geist gereinigt sind, werden lediglich neue Krankheiten anstelle der alten erscheinen.
Wir alle sind natürlich dankbar für eine gut funktionierende moderne Medizin, und wo sie noch dem ärztlichen Eid des Hippokrates folgt, wird sie auch die zu beachtenden heilsamen Grenzen, wie zum Beispiel das Tötungsverbot, achten. Es ist aber zu beobachten, dass in Folge der die akademische Ausbildung und die Wissenschaft seit Längerem dominierenden positivistischen und materialistischen Sichtweise die Neigung besteht, sich über ethische Bedenken hinwegzusetzen und alles zu machen, was man inzwischen machen kann. Hier sind bereits gravierende Fehlentwicklungen eingeleitet worden, und wir sollten deren Natur und die dahinterstehende Mentalität verstehen und ihnen rechtzeitig Einhalt gebieten, wo wir betroffen sind oder Gelegenheit dazu haben.
Es ist erfreulich, dass nun auch vermehrt andere Stimmen in der Ärzteschaft laut werden, die die derzeit gängigen Sicht- und Verfahrensweisen im Medizinbetrieb offen infrage stellen und, etwa wie Dr. Giovanni Maio, die Grenzen der Machbarkeit und des Wachstums aufzeigend, für eine humane Medizin im Sinne des Hippokrates eintreten.
Jeder von uns kann, in seinem persönlichen Umfeld beginnend, helfen, klare ethische Richtlinien zu vertreten und zu bezeugen. Auch in unserer privaten Kommunikation im Internet, in Vorträgen auf Kongressen und in Publikationen können wir unsere Meinung äußern. Was die Ärzte »guten Willens« betrifft, so hoffe ich, dass sie sich miteinander verbinden, um einem deutlichen Trend zur Dehumanisierung entgegenzuwirken, auch wenn dies in den auf finanziellen Profit hin orientierten Kliniken und Anstalten immer schwieriger wird.
Vonseiten der Psychologie können die vitale Wichtigkeit einer ganzheitlichen, das heißt Leiden und Sterben nicht verdrängenden Einstellung und die Möglichkeiten und Vorteile von Entspannungstechniken und Mitgefühlsübungen als Maßnahmen der Psychohygiene für das überlastete Klinikpersonal und als Unterstützung für die Patienten aufgezeigt und von den positiven Erfahrungen her, die bereits damit gemacht wurden, begründet werden. Es wäre wünschenswert, dass diese psychisch entlastenden und eine von Empathie getragene Motivation stärkenden Methoden häufiger in Kursen für das Pflegepersonal eingeführt und vermehrt in einer Gruppenarbeit mit Patienten angewendet würden, um dehumanisierenden Tendenzen entgegenzuwirken, die durch Überlastung gefördert werden.
Mitgefühlsübungen und Meditation sind eine Quelle der Kraft, weil sie uns öffnen und uns unsere erdachten persönlichen Grenzen vergessen lassen. Einschränkende persönliche Glaubenssätze und Auffassungen, die die Empathiefähigkeit verringern, können durch die bewusste Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf heilsame, holistische Sätze wie »Mögen alle Wesen gesegnet sein, denen ich heute begegne« oder »Mögen alle Wesen glücklich sein« ersetzt und erfolgreich transzendiert werden. All das sind Ansätze, die weiter ausgebaut werden können.
Viel Erfreuliches ist ja bereits auf diesem Gebiet geschehen, die Hospizbewegung verbreitet sich, und vielerorts werden jetzt Kurse für Sterbebegleitung angeboten. Ich wünsche mir, dass auch die Übungen in diesem Buch dabei eine immer breitere Verwendung finden werden und noch vielen Menschen helfen können.
Wenn man mehr mit gemeinsamen Entspannungs- und Ruheübungen wie dem »alles befreienden Atem des A« und mit Mitgefühlsmeditationen, wie zum Beispiel dem »unzerstörbaren Atem von Segen und Mitgefühl«, arbeitete, die im dritten Teil dieses Buchs beschrieben sind, so könnte man sich viele andere medizinische Maßnahmen sparen. Kombiniert mit einer guten palliativen Versorgung, wäre eine größere Lebensqualität und Sinnhaftigkeit in der letzten Lebensphase und eine hilfreiche Vorbereitung auf das Sterben möglich, sodass wohl die wenigsten auf die Idee kämen, sich umbringen zu lassen oder ihren Tod vorzeitig selbst herbeizuführen.
Wo die Wissenschaft und Medizin subliminal und offen die bevorstehende Befreiung von allem Leid verspricht, aber gleichzeitig von unternehmerischen, finanziellen Interessen und von Gewinnmaximierung motiviert erfindet und handelt, ist große Vorsicht und auch ein Hinterfragen der angebotenen und häufig als »alternativlos« ausgegebenen Leistungen und »Machbarkeiten« geboten, denn bereits die von gewinnorientierten, finanziellen Interessen verunreinigte Motivation weicht ja vom Hippokratischen Eid ab und führt in eine andere Richtung. Rein marktwirtschaftlich gesehen, gilt es, möglichst gewinnbringende Leistungen zu generieren und solche, die weniger lohnen, zu reduzieren. Betrachten wir es genau, so steht hinter ethisch bedenklichen Eingriffen der Medizin heute oft in Wahrheit diese Logik.
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