Es zeigt sich folglich eine mangelnde Bereitschaft, die eigentlichen Ursachen des Leids zu erkennen, zu benennen und zu beseitigen, und bedingt durch ein mechanistisches, körperfixiertes Menschenbild und die axiomatische Negation eines Weiterlebens nach dem Tod zugleich ein falsches Verständnis davon, was wirkliche Gesundheit von Körper und Psyche und ein gutes, kostbares Menschenleben eigentlich bedeuten.
Ich denke, es wäre gut und eine wertvolle Entscheidungshilfe, wenn sich unsere heutigen Ärzte in ihrem eigenen Interesse und in dem ihrer Patienten weiterhin oder wieder nach dem klassischen Eid des Hippokrates orientierten. In diesem heißt es nämlich: »Ich schwöre Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zum Zeugen anrufend, dass ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde: Meine Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen und Frommen der Kranken nach bestem Vermögen und Urteil. Ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben. Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren …«
Da, wo es früher wohl oder übel hieß: »Dein Wille geschehe«, wird heute dem Menschen nahegelegt, selbst zu entscheiden, was annehmbar ist und was nicht; und er oder sie »lässt es machen«, wenn es angeboten wird, erlaubt und möglich und finanzierbar ist.
Der Mensch glaubt, er entscheidet dabei frei, aber in Wahrheit haben ihm zumeist Werbekampagnen und Fernsehsendungen die Ideen sehr gezielt, offen und subliminal in den Kopf gesetzt und seinen Willen gelenkt. Der Wandel von ethischen Paradigmen, dessen Zeuge wir sind, geschieht nicht von ungefähr, sondern war und ist medial beeinflusst. Bei einer Vielzahl widerstreitender Meinungen und Argumente scheint es so manchem nicht mehr leicht, sich über die oben genannten, medial zumeist gepriesenen wissenschaftlichen Errungenschaften, Eingriffe und Manipulationen der Natur und ihren Sinn und Zweck ein sicheres Urteil zu bilden. Doch wenn Technologien wie zum Beispiel die Nanotechnologie und Gentechnik in den falschen Händen sind, so hat die Menschheit bereits früher leidvoll erfahren müssen, dienen sie meist leider nicht dem Wohl und der Befreiung der Menschen, sondern werden für ihre Unterdrückung, Steuerung, Manipulation und für eugenische Auswahl und Reduktion der Bevölkerung verwendet.
Was die gravierendsten Auswüchse dieser technischen »Fortschritte« – was das Töten von als »unerwünscht« oder »unwert« betrachteten Lebens betrifft, so brauchen wir uns eine richtige ethische Einschätzung dieser Handlungen sicher nicht zusammenzudenken, denn eine höhere Weisheit und Einsicht als der verwirrte menschliche Verstand hat gesprochen, als sie eine der Hauptregeln für ein nachhaltiges, heilsames Verhalten, und das in unserem eigenen Interesse, lehrte: »Du sollst nicht töten.« Und in der fünften Grundregel für ein ethisches Verhalten im Buddhismus heißt es dementsprechend: »Ich gelobe, kein Lebewesen zu verletzen oder zu töten.« Dilgo Khyentze Rinpoche erklärte hierzu, dass dies nicht nur bedeute, selbst vom Töten abzusehen, sondern auch die Verpflichtung impliziere, das Leben zu schützen und zu retten, wenn es uns möglich ist.
Es gibt also eine ganz klare ethische Richtlinie und Grenze, und wir sollten uns immer wieder darauf besinnen und berufen. Es ist wichtig, sie zu würdigen und in unserem Umfeld und in der Gesellschaft auch zu bezeugen.
Generell ist die Identifizierung mit und die Fixierung auf den Körper einfach zu groß geworden in diesem Zeitalter, aber nicht im Körper liegt unser Leben und unser künftiges Schicksal, und dieses ist nicht zufällig, sondern es wird durch unser Denken, Fühlen, Wollen und Handeln in diesem Leben und genau jetzt vorbereitet und wirkt sich in allen unseren weiteren Leben aus.
Dazu fällt mir an dieser Stelle ein weiteres Jesus-Wort ein, das auch für die anderen fragwürdigen Manifestationen des Zeitgeistes zutrifft, über die wir hier nur deshalb sprechen, weil sie inzwischen jeden Menschen affizieren und zu seinen psychischen und physischen Leiden beitragen: »Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, dabei aber seine Seele Schaden leidet?«
Leider wird der kontextuelle Zusammenhang von Ursache und Wirkung in Bezug auf das eigene Handeln und die Vorteile eines altruistischen, ethischen Handelns selbst unverständlich und inkohärent, wo der Mensch in der Überzeugung lebt, dass mit dem Tod alles aus ist und es folglich keine Nachwirkungen seiner Handlungen für ihn selbst geben kann. Dass aber unter den Folgen des unvernünftigen Wirtschaftens und Verhaltens der heutigen Elterngeneration deren Kinder und noch viele Generationen nach diesen und alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten leiden werden, wenn sie nicht ohnehin schon ausgerottet sind, ist nun eigentlich unübersehbar geworden.
Die meisten Menschen verdrängen das Unangenehme einfach, und so wollen sie die Brisanz dieser nachhaltig die Lebensqualität einschränkenden umweltlichen und gesellschaftlichen Veränderungen nicht wahrhaben und schauen lieber gebannt auf ihre Bildschirme, wo eine virtuelle Pseudorealität ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkt, sie bindet und durch oberflächlich angenehme und faszinierende Unterhaltung von der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen, tatsächlichen Umwelt und Lebensumstände ablenkt.
Medial wird langsam ein postfaktisches, ein hochgradig fiktionales Sehen und Verhalten – also ohne »Realitätsbezug« in bisher noch gültiger psychologischer Diktion – eingeführt und kultiviert, in denen Lüge mit Wahrheit und Wahrheit mit Lüge gleichgesetzt und als gleich geachtet wird. Damit wird es immer schwerer für den heutigen Menschen, Heilsames von Unheilsamem zu unterscheiden.
Die Vergeblichkeit allen weltlichen Strebens
In der letzten Phase des Lebens wird die Vanitas oder Vergeblichkeit allen weltlichen Strebens für jeden Menschen offenbar, und das persönliche Weltende kommt in Sicht. Doch Leiden und Tod, die beiden großen Lehrmeister sind dem, der ihre Botschaft nicht hören will lediglich sinnlos, absurd und unerwünscht.
Man will ihre Lektion nicht mehr lernen, stellen sie doch das vertraute Leben und das Streben nach weltlichen Zielen infrage. Es nimmt also nicht wunder, dass viele von dieser Leistungsgesellschaft geprägten Menschen, die sich mit deren Werten identifiziert und keine andere Perspektive kennengelernt haben, nun sogar die letzte Phase ihres Lebens, in der die wohlvertraute Identifikation mit dem Körper und mit den angestrebten Zielen fragwürdig und brüchig wird und in der man Vergänglichkeit, den Verfall der Kräfte und den immanenten Tod nicht mehr verdrängen kann, als ihrer unwürdig und mit ihrem Stolz nicht vereinbar finden. Viele fordern nun ein Recht darauf, sich selbst vergiften zu dürfen. Warum gerade heute, so könnte man fragen, wo die Medizin so weit fortgeschritten ist, dass sie viele Leben künstlich verlängern kann, die eigentlich bald enden würden? Die Realität ist, dass sie in der »Konsumgesellschaft« zumeist niemand mehr haben, der sie wertschätzt und der sagt, dass er sie noch braucht.
Eine Gesellschaft, in der niemand mehr Zeit hat, deren falsches »Ideal« in höchster körperlicher und geistiger Fitness und im Ertrag und der Wirtschaftsleistung jedes Einzelnen besteht, isoliert und verdrängt die Alten. Wird in besagter Gesellschaft der assistierte Suizid gesetzlich erlaubt, so wächst in der letzten Lebensphase, in der wir der Hilfe anderer bedürfen, auch der soziale Druck, sich das Leben zu nehmen.
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