1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Das grundlegende Leitmotiv eines religiösen Lebens im Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus besteht nach wie vor darin, sich von negativen Charaktereigenschaften oder Untugenden zu befreien. Als da wären Selbstsucht, Ignoranz, Gleichgültigkeit, Rücksichtslosigkeit, Überheblichkeit, Eifersucht, Begierde, Neid und Zorn. Es geht um die Befreiung von aller Anhaftung an Dinge und Sinnesreize, an Körper, Ich und Welt. Es gilt, positive Qualitäten wie Selbstlosigkeit, Mitgefühl, Liebe, Mitfreude und Gleichmut sowie Tugenden wie Freigebigkeit, Geduld, Selbstbeherrschung, freudiges Bemühen im Guten, geistige Sammlung und klar unterscheidende Weisheit zu kultivieren.
Der Wert und Sinn von guten Werken und von altruistischem Handeln, von Verzicht auf Besitz und leibliche Genüsse, Selbstüberwindung, Nächstenliebe, Gebet, Stillewerden und Kontemplation wurde früher stärker als heute in ihrem natürlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gesehen und war eingebettet in die selbstverständliche Perspektive eines Weiterlebens nach dem Tode und einer göttlichen, ausgleichenden Gerechtigkeit, die, einfach und treffend formuliert, darin besteht, dass »jeder das ernten wird, was er einmal selbst gesät hat«. Die Früchte, die wir ernten werden, entsprechen der Art von Samen, die wir gelegt haben. Die Welt zu überschreiten und das Ego zu überwinden war das hohe Ziel, und das Streben nach Heiligkeit, Erlösung und Erleuchtung war allgemein anerkannt und als höchste Leistung des Menschen überaus geachtet. Wenn ich hier »war allgemein anerkannt« schreibe, dann deshalb, weil in diesem »Zeitalter der Degeneration«, wie »der zweite Buddha« Padmasambhava unsere Zeit in seinen Prophezeiungen nennt, der eigentliche »Sinn und Zweck« dieses Menschenlebens und die Richtlinien eines ethischen Handelns immer mehr unter einer Fülle von Informationen, Meinungen und Zeitvertreiben verschüttet werden.
Wie also können wir sie wieder klar und deutlich herausarbeiten und verständlich machen? Das Wort »Tugend«, lateinisch virtus, hat seine Wurzeln in den Worten vis für »Kraft«, als Wirkendes und Zeugendes verstanden, und vir, das »Mann« oder »Held« bedeutet: ein »Mann« oder »Mensch« mit hervorragenden Fähigkeiten und einer »optimalen Qualität des Verhaltens«, wobei unter den Letzteren die herausragende Geschicklichkeit in der Anwendung der gegebenen Talente und Kräfte des Wirkens und Gestaltens zu verstehen sind. Vir leitet sich von dem weitaus älteren Sanskritwort vira her, das »Held« oder »Heros« bedeutet. »Maha-Vira« oder »großer Held« ist im Hinduismus ein Beiname des Gottes Vishnu, und in den Mahayana-Sutras des Buddhismus werden alle Wesen auf den höheren Stufen des Wegs zur völligen Erleuchtung oder Buddhaschaft, also die »Bodhisattvas«, häufig mit dem Epitheton »Maha-Vira« benannt. Das deutsche Wort »Tugend« impliziert Tauglichkeit oder Nützlichkeit und bezeichnet sowohl große Begabungen und gute Charaktereigenschaften wie auch eine erstrebenswerte Geschicklichkeit und Weisheit in all unseren Handlungen. Lernt man, seine Kräfte von Körper, Rede und Geist geschickt anzuwenden und den Erfordernissen jeder Situation entsprechend und angemessen zu handeln oder Handlungen zu unterlassen, so führt dies schließlich zu Virtuosität – zur Fähigkeit, eine Kunst, eine Wissenschaft oder ein Handwerk meisterlich, das heißt optimal und fehlerfrei, doch gleichzeitig spontan und anstrengungslos auszuüben.
Wenn wir Ethik als »die Wissenschaft eines jetzt und auf Dauer heilsamen Handelns« definieren, so ist ihr Gegenstand der Zusammenhang aller Handlungen von Körper, Rede und Geist mit den dadurch bewirkten Folgen und damit das Studium des Gesetzes von Ursache und Wirkung oder Karma. Dieses wirkt in Bezug auf all unsere Taten und Erfahrungen ebenso verlässlich regulierend und ausgleichend wie überall in der Natur. Actio est Reactio. Wenn wir die Ursachen des Leidens verstehen, können wir diese beseitigen und wieder gesund werden.
All unsere Gedanken, Worte und Handlungen haben als spezifische, von uns ausgehende und gesetzte Ursachen und Impulse die ihnen genau entsprechenden Wirkungen, die unmittelbar in der Gegenwart und in der Zukunft unsere eigene Wahrnehmungsweise und unsere Erfahrungswelt gestalten und prägen. Achtsames, auch auf seine Folgen bedachtes Handeln erweist sich als nachhaltig geschickt, denn seine Auswirkungen sind positiv, wenn es frei von unheilsamen Beweggründen ist. Unachtsames, auf die möglichen Nachwirkungen nicht achtendes, rücksichtloses Handeln ist meist auch unheilsam und damit ungeschickt, weil es negative Folgen für einen selbst und die Gesellschaft und die Umwelt hat. Um ein deutliches Beispiel zu geben, brauchen wir wie gesagt nur die derzeitige Umweltverschmutzung, die sie verursachende Profitgier der Firmen, unser eigenes, von der Werbung gesteuertes Konsumverhalten und dessen Folgen zu betrachten. Der Verschmutzung der äußeren Welt geht wie gesagt die Verschmutzung unserer Innenwelt mit den Toxinen des Geistes wie Überheblichkeit, das Ignorieren unserer Fehler, Rücksichtlosigkeit und die Gier nach immer neuen Wunschobjekten und Sensationen voraus. Unser Denken, Wünschen und Handeln formen unser Leben und unsere Welt.
Um ein weiteres, kleines Beispiel aus dem täglichen Leben zu geben: Unsere Worte sind im Grunde nur Töne, die verklingen – sie sind unbeständig und vergänglich, und doch kann ein verletzendes Wort Schäden bewirken, die schlimmer sind und länger bleiben als solche, die durch Waffen zugefügt werden. Ein böses und unbedacht hingesagtes Wort genügt manchmal, um Freunde lebenslang zu Feinden zu machen. Ein negatives, entwertendes Wort kann die gute Stimmung eines friedvollen Miteinanders in der Familie trüben oder ihre Mitglieder für immer entzweien. Seine verunreinigende Wirkung gleicht einem Körnchen Mäusekot, das, wenn es in einen Topf Milch hineinfällt, die ganze Milch verderben kann – so sagen die Tibeter.
Die genannten ethischen Richtlinien des gültigen Dharmas der Einheit allen Seins oder des göttlichen Gesetzes der Resonanz raten zu heilsamem und vernünftigem Handeln; und sie wurden der Menschheit vermittelt, um den Einzelnen vor Handlungen zu bewahren, die ihm selbst und anderen schaden. Sie finden sich in den heiligen Schriften aller Weltreligionen.
Da aber auch das Anhaften an verschiedenen Glaubenssystemen, Dogmen oder Konfessionen trennt und Leiden generiert und für die Schaffung von Konflikten instrumentalisiert wird, ist es heute für die Menschheit und für alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten überlebenswichtig, die grundlegenden Werte – wie Friede, Verständigung, Mitgefühl, Wohlwollen, Nächstenliebe, Kooperation, Gewaltlosigkeit, Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit – als die den Religionen gemeinsamen Elemente und Richtlinien für ein ganzheitliches und tugendhaftes Handeln herauszuarbeiten: ein ethisches Handeln, das gleichermaßen einem selbst, den anderen und der Umwelt nützt und sich nach den einfachen goldenen Regeln richtet, die Konfuzius, wie gesagt, schon vor langer Zeit formulierte: »Behandle die anderen so, wie du selbst gern behandelt werden willst.« Oder auch, im Umkehrschluss: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.« Diese Direktiven geben dem Menschen eine klare Richtlinie für sein eigenes Tun und Lassen und schaffen Klarheit, wenn er sein Verhalten daran misst.
Eine ergänzende Entscheidungshilfe bei ethischen Fragen ist im gleichen Sinne natürlich auch Kants Formulierung des kategorischen Imperativs: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«
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