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Eine Gesellschaft, deren Mitglieder nach der ihnen suggerierten Maxime leben, es gebe nur ein Leben und in diesem solle man sich all seine Wünsche erfüllen und möglichst viel angenehme Erfahrungen, Wunschobjekte, Geld und Besitz ansammeln, wird zwangsläufig damit eine allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe kultivieren, an Lebensqualität verlieren und ihre eigene Umwelt schädigen.
In unserer persönlichen Selbstentwicklung können wir fortschreiten vom Zustand eines noch unvernünftigen Kindes, in dem wir unseren unbewussten Konditionierungen und Gewohnheitstendenzen und den früheren Prägungen sowie den Einflüssen und Normen unserer Umgebung und Gesellschaft noch automatisch folgen und häufig dieselben Fehler wiederholen, da uns persönlich der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung unserer Handlungen eigentlich noch unklar ist. Wir können uns aus der Rolle des unmündigen Kindes und Opfers befreien, das keine Verantwortlichkeit für sein Tun übernehmen will. Wenn wir unser Verstehen vertiefen, können wir wirklich erwachsen und ein »Virtuose« werden, wahrhaft geschickt, achtsam und verantwortungsvoll in unseren Handlungen von Körper, Rede und Geist. Und zu guter Letzt wird jeder von uns ein Meister in der »Kunst des Lebens« sein, deren Erlernen, so heißt es, viele Leben dauert, denn diese Kunst ist »lang«, das menschliche Leben aber kurz – eben »Ars longa, vita brevis«.
Wenn wir es wollen, können wir zu wirklicher Erkenntnis unserer selbst und der Welt kommen und ein wirklich vom Sinn erfülltes Leben führen. Ich glaube, je mehr wir den Sinn erkennen und ihm nachfolgen, desto glücklicher und gelungener ist auch unser Leben.
C. G. Jung bemerkte, sicher aus seiner großen Erfahrung als Therapeut heraus: »Je mehr der Mensch auf falschem Besitz insistiert und je weniger das Wesentliche für ihn spürbar ist, desto unbefriedigender ist sein Leben. Er fühlt sich beschränkt, weil er beschränkte Absichten hat, und das schafft Neid und Eifersucht. Wenn man versteht und fühlt, dass man schon in diesem Leben an das Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellung. Letzten Endes gilt man nur wegen des Wesentlichen, und wenn man das nicht hat, ist das Leben vertan.«
Wenn wir uns bewusst und intensiv dem Sinn in uns zuwenden, der erkannt werden will, und uns wirklicher Selbsterforschung und damit Selbsterkenntnis öffnen, sind wir »Wesen auf dem Weg zum Erwachen« oder »Bodhisattvas«.
Der inhärente, natürliche Ansporn in jedem Menschen, seinen eigenen Sinn und sein wahres Wesen vollkommen zu erkennen und das optimale Empfinden seiner selbst als reines Glück zu realisieren, wird im Mahayana-Buddhismus »Bodhicitta« oder »der zur Erleuchtung drängende Geist« genannt. Es ist »das große Selbst« oder dag-nyid chenpo in uns, das uns als »innerer Lehrer oder Meister« zum Überschreiten des kleinen Ich und seiner selbstreferenziellen Ängste und Wünsche inspiriert und uns zu grenzenloser Ausweitung des Erkennens und des Liebens ruft. Wenn wir beginnen, seinem Ruf zu folgen, erfahren wir immer deutlicher seine Führung in unserem Leben und hören und verstehen seine Worte und Zeichen immer besser. Es ist diese »Rück-Verbindung« oder re-ligio mit unserem wahren, innersten Selbst, die wir in der täglichen Praxis des »Yoga der Verbindung mit dem Meister« kultivieren können. Wenn wir zum Beispiel die darin enthaltene Zeile »Bitte gewähre mir den Segen, mein wahres Wesen zu erkennen!« nicht nur häufig formulieren, sondern wirklich empfinden, so öffnen wir uns bewusst dem Licht der höheren Erkenntnis in uns, das uns damit erleuchten und Kraft schenken kann auf dem Weg.
Das Leben der »Bodhisattvas« oder all derer, die bewusst den Weg einer systematischen Geistesschulung betreten haben und deren Curriculum folgen, geht von Anfang an über die selbstauferlegten Grenzen des Egos hinaus, denn es ist motiviert und getragen vom Wunsch, sich selbst und alle Wesen schließlich vom Leid und von den Ursachen des Leids zu befreien. Dieses Streben nach Erleuchtung ist beseligt vom Wunsch, alle Wesen glücklich zu sehen, nicht nur uns selbst. Das Streben drückt sich aus in der Übung der sechs das Leiden und Handeln der Welt transzendierenden Tugenden oder Paramitas, die da lauten Freigebigkeit, Geduld, freudiges Bemühen, Selbstdisziplin, geistige Sammlung und Weisheit. Es ist ohne Zweifel heilsam und gut, diesen Parametern entsprechend zu handeln; und es wird uns helfen, über uns selbst hinauszugehen und unser Verhalten dem Wesentlichen in uns anzugleichen. Es gilt natürlich, auf diesem Weg der Sublimierung und des Freiwerdens stets tiefer zu gehen und dem Ego auf die Schliche zu kommen, wo immer es sich in unser Verhalten einzumischen versucht. Solange wir noch unter dem Einfluss des Egos und der sogenannten Geistesgifte stehen, werden wir all diese Tugenden nur unvollständig und auf unreine Weise üben können. Der Bodhisattva soll deshalb weiterschreitend lernen zu handeln, ohne zu handeln; das heißt, er soll die Paramitas auf eine reine Weise üben. Und das heißt: ohne Konzept eines Handelnden, einer Handlung oder eines Resultats. Zum Beispiel übt sich der Bodhisattva im Geben ohne das Konzept, dass er es ist, der gibt, ohne Begriff von dem, was er gibt, und ohne ein Konzept von jemandem, der das Gegebene empfängt.
Es ist ein großer Fortschritt, wenn wir uns der sogenannten »Reinheit der drei Sphären« von Subjekt, Handlung, Praxis oder Erfahrung und von Objekt oder Resultat annähern und damit fähig werden, der Selbstlosigkeit und Leerheit aller Erscheinungen entsprechend zu handeln. Im Prajnaparamita-Sutra heißt es: »Der Bodhisattva übt sich in allen Tugenden, doch er hat keine Vorstellung wie ›Ich übe mich in der Tugend‹. Der Bodhisattva tut immer Gutes, aber er hat keine Vorstellung wie ›Ich tue Gutes‹.«
Es ist klar, dass wir uns dieser Reinheit nur durch die Übung des Ruhens in nichtkonzeptuellem Gewahrsein annähern können. »Lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut«, sagt Jesus in Bezug auf das Geben und Schenken, und er meint damit dasselbe – ein selbstloses Tun im Zustand der wahren Armut oder Leerheit des Geistes.
Die unkörperliche Klarheit des Geistes
Es ist ein gut bekanntes Faktum, dass Menschen mit einem religiösen oder spirituellen Hintergrund und Ausblick ein leichteres Sterben haben als solche ohne eine derart tröstliche Perspektive. Vor dem Tod tritt aber für die meisten Menschen auch eine Art von terminaler Luzidität ein, und das erstaunlicherweise sogar bei Alzheimer im letzten Stadium, also mit einem stark aufgelösten Gehirn. Die Betroffenen können dann ihre Angehörigen wieder erkennen und klar mit ihnen sprechen. Auch übersinnliches Vorauswissen und Telepathie sind hier möglich.
Es ist offensichtlich die ursprüngliche, unkörperliche Klarheit des Geistes, jenes klare Licht der Weisheit, von dem die Reanimierten erzählen, das auch hier an der Schwelle schon herüberleuchtet, wobei es natürlich auch am Einzelnen liegt, wie er darauf reagiert. Man kann sich dem öffnen oder bis zuletzt versuchen, jede Einsicht zu verdrängen.
Mit diesem Licht kommt auch eine spontane Einsicht, dass es keinen Tod gibt. So ergeht es auch Menschen, die sich selbst töten, im Augenblick des irreversiblen Sterbens, und sie erkennen schmerzlich die Absurdität und Falschheit ihrer Handlung. Für Menschen, die, von der Annahme ausgehend, dass mit dem Tod alles aus ist oder dass dieser Eingriff sie dann nicht mehr negativ affizieren kann, einer Organentnahme zugestimmt haben, mag dies ähnlich sein. Vitale Organe können nur dann verpflanzt werden, wenn der schwerverletzte »Spender« noch lebend auf dem Operationstisch liegt. Der tibetische Buddhismus rät, den Körper eines Verstorbenen für drei Tage nicht einmal zu berühren. Er sollte in der beim Sterben eingenommenen Position belassen werden, um den Todesprozess nicht zu stören und um eine möglich tiefe geistige Ruhe im Sterben und damit seine Erlösung oder eine positive Wiedergeburt nicht zu vereiteln.
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