Fest steht aber, dass im Land der Anstand leidet, quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Politiker werden als Absahner enttarnt, im Aufzug grüßt keiner mehr, und jetzt lassen sich sogar schon leibhaftige Schiedsrichter von schmierigen Halbwelt-Strizzis bestechen. Dabei galten die Unparteiischen zusammen mit Ordensschwestern als letzte moralische Instanzen in schwerer Zeit. Armes Deutschland. Aber da wir vom Radclub immer schon an das Gute glauben, gehen wir begeistert auf Brägels Idee ein, eine Art Knigge für Rennradfahrer auszuarbeiten.
Nach zwei Hefe hell stehen die Rahmenbedingungen für einen anständigen Freizeitsport. Es ist ab sofort strikt verboten, sich von hinten unbemerkt fremden Radlern zu nähern, sich anschließend schamlos im Windschatten zu erholen, nur um dann an einem passenden Berg mit 350 Watt anzutreten. Das ist nicht nett. Künftig begrüßen wir Fremde mit einem freundlichen Hallo und lassen sie auch in den Genuss unseres Windschattens kommen. »Haben wir doch noch nie gemacht«, flüstert der alte Hans. Ich nicke, aber Brägel denkt schon weiter. Die Handzeichen, die auf Löcher in der Straße oder sonstige Hindernisse aufmerksam machen, müssen wieder mehr zum Einsatz kommen, wer sich die Nase ausblasen will, lässt sich an das Ende der Gruppe zurückfallen, und gepinkelt wird in Zukunft nur außerhalb geschlossener Ortschaften und mit dem Rücken zur Straße. Hupende Autofahrer werden künftig nicht mehr mit dem Einsatz körperlicher Gewalt und unanständigen Worten bedroht. Ich erinnere mich noch gut, wie Brägel vor zwei Wochen einem hupenden Autofahrer nachhetzte und ihm beim nächsten Halt mit seiner Trinkflasche ins Auto gespritzt hat. Danach hat er ihn mit einer Salve von Wörtern belegt, von denen ein paar Kinder am Straßenrand rote Ohren bekamen. Das Ganze endete mit einer eindeutigen Morddrohung für den Fall, dass sich der Automobilist nicht sofort verpissen, Verzeihung: verkrümeln würde.
Und jetzt will Brägel zum Benimm-Radler werden. »Wir müssen Vorbilder sein«, sagt er. Es soll auch Schluss damit sein, dass wir uns über andere Radfahrer lustig machen und über ihre Velos oder Trikots herziehen. »Sollen wir sie auch noch ein bisschen küssen?«, ätzt der alte Hans, dem es langsam zu viel wird. Ich denke auch, dass es jetzt reicht. Ausgerechnet Brägel, der mich erst kürzlich hämisch gefragt hat, wann ich mein sieben Jahre altes Cinelli ins Museum für historische Technik bringen wolle. Danach hat er dreckig gelacht und voller Stolz seinen neuen Carbonrenner (7,153 Kilo, das Gramm zu je einem Euro) am Stammtisch präsentiert (er hat tatsächlich das Rad in der Kneipe um den Tisch geschoben).
Ich will Brägel gerade ein bisschen einbremsen und die dritte Runde Hefe hell bestellen, als die Jungradler das Vereinsheim betreten. Sie setzen sich grußlos und bestellen Apfelschorle und Latte Macchiato. Der Präsident erhebt sich schwer (84 Kilometer, zwei Hefe hell) und sendet eine Botschaft an den Nachbartisch: »Hört mal, demnächst sagt ihr Hallo, wenn ihr an uns vorbeifahrt. Das gehört sich so.« Er setzt sich, die Jungen tun so, als hätten sie nichts gehört. Jetzt kommt Brägel. »Seid ihr taub? Habt ihr nicht gehört, was der Chef gesagt hat? Das nächste Mal wird gegrüßt, sonst zieh ich euch persönlich mit der Luftpumpe einen Scheitel über eure gegelten Igelschädel, ihr Schnösel.« Die Jungen stehen auf, verbeugen sich, rufen: »Schönen guten Tag, die Herren«, und setzen sich wieder. Dann lachen sie herzhaft. Brägels Kopf glüht wie eine Christbaumkugel, aber er setzt sich schweigend wieder hin.
Es ist wirklich gar nicht so einfach mit dem Anstand.
SELBSTVERSUCH
DOPING IST, KEINE FRAGE, ALLERSTRENGSTENS ZU VERURTEILEN. WOBEI MAN JA DOCH MAL GERN WISSEN MÖCHTE, OB’S WAS BRINGT …
2006
Aus gegebenem Anlass müssen wir erst einmal darauf hinweisen, dass dieser Radschlag in weiten Teilen leider äußerst unappetitlich ausgefallen ist. Menschen mit vorhandenem Schamgefühl sollten also an dieser Stelle aussteigen und auf das nächste Heft warten. Danke.
Sie sind noch da? Also gut, Sie ahnen es, es geht um Doping. Und natürlich geht es auch um Brägel, der ja bekanntlich jeden Mist ausprobiert, wenn er sich auch nur den allergeringsten Vorteil davon verspricht. Im Moment ist er aber froh, wenn er einigermaßen schmerzfrei laufen kann, weil er die Sache mit dem Hodenpflaster natürlich völlig falsch verstanden hat (Sie können auch jetzt noch weiterblättern).
Nicht – also gut, das war so. Wir im Radclub sind nach den furchtbaren Enthüllungen der Tour de France natürlich in eine Sinnkrise gefallen. Wir haben das Training reduziert und den Hefe-hell-Konsum zur Frustbewältigung intensiviert. Nur Brägel verschlang alles, was er über die Affäre Landis in die Finger bekam. Danach ging er in die Apotheke, kaufte sich Pflaster und umwickelte ohne vorherige Rasur (ich hatte Sie gewarnt) besagtes Teil und, damit es noch mehr peppt, auch noch angrenzende Regionen, wobei jetzt nicht ins Detail gegangen wird. Die Pflasterrolle enthielt allerdings kein Testosteron, dafür sehr viel, sehr hartnäckigen Kleber. Brägel lief auch noch dauernd mit Nasenpflaster herum, was sich als doppeltes Missverständnis herausstellte.
Es kam, wie es kommen musste – nach einigen Tagen wurde der Lapp von Juckreiz geplagt und von Fliegen umsurrt (ich weiß, ich weiß, aber Sie lesen ja auch einfach weiter), sodass er zur Entfernung der Pflaster schritt. Nach einem halben Millimeter wurde ihm schlagartig klar, dass er einen großen Fehler begangen hatte. Aber statt zum Arzt zu gehen, riss er die ganze Chose mit einem Ruck ab. Seine Nachbarn schwören heute noch, dass an diesem Tag bei Brägel eine illegale Hausschlachtung irgendeines riesigen Tieres stattgefunden haben muss, aber es war nur Brägel, der mit blutenden Geschlechtsmerkmalen eine Art rituellen Tanz aufführte und brüllte wie Bruno der Bär. Dass er heute nicht geschieden ist, verdankt der Lapp nur der Tatsache, dass seine Gattin Viola für drei Tage mit den Kindern im Kurzurlaub war. Brägel überlebte wie durch ein Wunder unverstümmelt, musste aber vorzeitig die Saison beenden.
Am Stammtisch gibt er sich geläutert. Jede Art von Doping sei für ihn künftig kein Thema mehr, sagt er. »Ist auch besser, sonst kannst du demnächst bei den Frauen mitfahren«, höhnt der alte Hans. Es bleibt aber die Frage: Warum machen Männer so einen Mist? Brägel erklärt, er habe mit dem Testosteron nur das Altern ein wenig verlangsamen wollen, schließlich sei Nachlassen das Allerschlimmste. Mal ganz abgesehen davon, dass er dann locker 20 Jahre zu spät damit angefangen hat, riskiert man doch dafür nicht seine Gesundheit. »Doch«, sagt der Präsident, »ich verstehe das, es ist einfach superscharf, wenn man am Berg noch einen Gang härter drauf hat.« Alle nicken, und auch Brägel rutscht ein wenig verlegen auf seinem Kissen herum, auf das er sich zur Schmerzlinderung gesetzt hat.
Gott behüte, lauter Irre. An diesem Abend beschließt der Radclub den Selbstversuch im großen Stil. Einmal Allmacht – dann soll es gut sein. Der alte Hans wird beauftragt, seine Internetkontakte zu nutzen, um die echten Hodenpflaster zu besorgen. Alle wollen mitmachen, nur Brägel muss verzichten, da bei ihm so schnell kein Pflaster mehr hält, nicht mal auf der Nase. Der alte Hans leistet dagegen ganze Arbeit, und eine Woche später soll der Versuch beginnen, wobei die Mitglieder zuerst einmal ganz allein zu Hause mit verschiedenen Enthaarungstechniken (Sie wollten es ja unbedingt lesen) die Teile vorbereiten sollen, auf die die Pflaster kommen. Dabei schied der Präsident für den Versuch leider aus, weil er sich eine tiefe Schnittwunde zufügte. Der Rest gibt dem alten Hans einen ordentlichen Betrag und schreitet dann zur Tat. Und danach aufs Rad zur Trainingsrunde. Hinterher prosten wir uns glücklich zu. Sensationelle Wirkung, wir waren auf den 65 Kilometern glatte 23 Sekunden schneller als sonst und das mit nur einem Pflaster. Insgesamt haben wir jeder sechs.
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