Das Resultat dieser Art von Aufrüstung bleibt aber in jedem Fall das gleiche. Der Mensch bringt sich in eine Position, die ungefähr so bequem ist wie Unkraut jäten im Stehen.
Und weil bei vielen die Lendenwirbelsäule auch schon ein bisschen steif geworden ist, wird der Bügel eben solange nach oben gebogen, bis es wieder bequemer wird. Da sitzt nun unser Aeroradler, fast wieder aufrecht, aber mit zusammengedrückter Lunge, weil er den engen Bügel nicht loslassen will.
Genaugenommen können die ganzen Dinger ja nur von Orthopäden erfunden worden sein, die sich Gedanken um die Patienten von morgen gemacht haben. Der letzte Lenkerschrei bestätigt das. Die spartanischen Griffe vorn zwischen den Bremsen sollen ja schon Jan Ullrich über die Pyrenäen geholfen haben. Mittelgriff und dann rein ins Pedal. Man nennt das übrigens »Spinaci« (zu deutsch: Spinat), was bedeutet, dass man davon so dicke Arme wie weiland Popeye bekommt. Allerdings nicht wegen der Muskeln, sondern weil die Unterarme ungeschützt auf dem harten Lenkerrohr abgestützt werden müssen.
Nein, wir wollen hier nicht meckern. Streng wissenschaftlich gesehen ist es ja sogar gesund, sich ins Lenkerhorn zu legen. Aber nur dann, wenn alles stimmt. Auflage 20 Zentimeter unter Sattelhöhe, Winkel zwischen Ober- und Unterarm zwischen 90 und 105 Grad, desgleichen auch zwischen Oberarm und Oberkörper. Und wenn das Knie hochkommt, darf es maximal zehn Zentimeter am Ellenbogen vorbeidrehen. Soweit die Theorie: Wer Brägel gesehen hat, braucht keinen Winkelmesser. Seine Knie können gar nicht bis auf zehn Zentimeter an die Ellenbogen heran, weil dazwischen die Wampe schwabbelt. 90 Grad kennt der nur in der Sauna, und was passiert, wenn die Arme 20 Zentimeter unterm Sattel sind – siehe oben.
Es gibt eben einfach leichtere Wege zurück zu den Wurzeln der Menschheit. Zum Beispiel mit einem Weizenbier in der Hand auf einem Baum hocken, die Knie an den Ohren, warum nicht? Beim Radeln darf es aber schon noch ein bisschen mehr moderner Mensch sein. An dieser Stelle müssen wir leider aufhören – Brägel kommt mit farbigen Nasenpflastern über die Straße gehetzt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
GLEICHBERECHTIGUNG
WENN ZWEI DAS GLEICHE TUN, IST DAS NOCH LANGE NICHT DASSELBE…
2002
Es hat sich doch einiges geändert in den vergangenen hundert Jahren. Zum Beispiel sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Das steht sogar im Grundgesetz, wobei das Thema Radfahren dort leider nicht explizit erwähnt wird. Auf dem Velo sind Männer deshalb immer noch ein bisschen gleicher als Frauen, was besonders für unseren Sportskameraden Brägel und seine Viola gilt. Brägel hat im Frühjahr beschlossen, seine mittlerweile Angetraute und Mutter seines Sohnes in die Geheimnisse des sportiven Radfahrens einzuführen. Brägel junior ist aus dem Gröbsten raus, also will der Lapp die Mutter des späteren Toursiegers Jan-Miguel ein bisschen auf ihren künftigen Lebensinhalt einstimmen.
Dazu hat er zuerst einmal sein Equipment für knapp 1.500 Euro »upgedated«, wie er das nennt: Einen Satz neue Laufräder, superleichte Pedale, Schuhe und einen Wahnsinnscomputer, der Dinge misst, von denen er nicht mal weiß, was sie bedeuten. Außerdem versucht er, das in TOUR vorgestellte Buch von Richard R. Türck zu bestellen, weil er sich unbedingt Seegurken ans Tretlager schrauben will. Darüber lachen wir im Radclub seit zehn Tagen, aber das ist ein anderes Thema. Brägel ist jedenfalls bereit.
Für Viola hat Brägel auch was passendes gefunden. Ganz hinten im Keller, sein altes Staiger-Zehngang, mit dem er vor gut 30 Jahren in die Schule geradelt ist. Rund 18 Kilo schwer und mit sehr hübschen, antiken Rostblüten im Lack. Das bringt er zwecks Modernisierung zum Händler, der allerdings lapidar zum sofortigen Verschrotten rät. Brägel juckt das aber nicht. Er wühlt ein bisschen in der Altmetall-Sammelkiste seines Händlers und legt dem Mechaniker eine uralte Siebenfach-Schaltung, Riemenpedale, Unterrrohrschalthebel und einen gebrauchten Ledersattel auf die Werkbank. Und ein paar museumsreife Modolo-Bremsen. »Sie soll fahren, nicht bremsen!«, scherzt Brägel. Keiner lacht. Und weil er schon mal da ist, kauft er noch ein neues Telekom-Trikotset und eine smarte Sonnenbrille. Für sich.
Ausfahrt am nächsten Sonntag. Brägel sitzt in Magenta und mit geölten Waden auf seinem 4.000-Euro-Renner und zupft gutgelaunt an der verspiegelten Brille. Der neue Computer ermittelt leise summend Außentemperatur, Blutdruck und anaerobe Schwelle, die Sonne blitzt in den blanken Speichen. Dahinter Frau Viola in Tennisschuhen, Shorts und einem T-Shirt der örtlichen Bausparkasse. »Wir fahren locker, maximal mit Puls 120, runder Tritt, etwa 25 Kilometer. Du fährst vorne, denn wenn ich das mache, muss ich dauernd zurückschauen, ob du mitkommst«, doziert Brägel mit öligem Lächeln. Viola nickt brav und rollt an. Brägel gibt ihr noch gönnerhaft einen Klaps auf den Po und will dann auch losfahren. Leider kommt er nicht richtig ins linke Pedal, sucht erst fluchend den Klick, und dann, als er endlich drin ist, Viola. Die hat sich aber schon hundert Meter abgesetzt. »Weiber«, denkt er. Ein kurzer, geschmeidiger Antritt à là Cipollini, und schon ist er wieder dran.
Viola fährt und freut sich, und Brägel gibt schlaue Anweisungen: »Mehr über das Tretlager setzen, höhere Frequenz, auf den Puls achten, schalten.« Viola antwortet nicht und fährt. Nach zehn Kilometern kommt ein kleiner Hügel. Brägel wird einsilbig. »Wenn du weiter so drückst, geht dir gleich die Luft aus.« Viola sagt nix und drückt. Brägel sagt auch nicht mehr viel – weil er Luft braucht. »Hey, ruhiger, Himmelhergottnochmal, fahr’ einen Gang leichter«, bellt er sie an. Viola sagt nix, schaltet nicht, fährt. Eine Gruppe Hobbyradler saust vorbei und freut sich an dem Anblick: Die Dame auf dem Oldtimer, und dahinter der High-Tech-Macho mit leicht rotem Schädel. »Du brauchst wohl Windschatten, Alter?«, ruft einer. Brägel kocht über. »DU BIST VIEL ZU SCHNELL«, herrscht er nach vorn. Viola sagt nix und fährt.
Nach 20 Kilometern bekommt Brägel echt Probleme. Rührt im Getriebe, tritt mal schneller, mal langsamer, nimmt einen Schluck aus der Trinkflasche. Viola trinkt nicht und fährt. »Du kannst morgen vor Muskelkater nicht mehr laufen«, keucht Brägel, »wir sind hier beim Radfahren und nicht auf der Flucht.« Viola sagt nix. Brägel auch nicht. Dafür beginnt jetzt sein Pulsmesser zu piepsen. Der Kerl verflucht den Tag, als er für seine Flamme das Rad entdeckt hat. »Entweder ich bin krank oder die ist gedopt«, presst er kaum hörbar hervor.
Finale. Die letzten fünf Kilometer, es geht leicht bergauf. Viola sagt nichts und fährt, Brägel verliert den letzten Rest Selbstachtung, macht sich ganz klein, konzentriert sich auf das Hinterrad seiner Holden und würde ihr liebend gern in die Waden schießen oder sie in siedendem Kettenfett braten. Sagen kann er nichts mehr. Den Pulsmesser hat er ausgeschaltet. »Ist das sehr langsam für dich, Schatzi?«, kommt es plötzlich von vorn. Brägels Schädelfarbe wechselt von Rot zu Purpur, was Viola aber nicht sieht. »Geht schon, Mausi«, flötet der Dampfkochtopf hinter ihr mit letzter Kraft.
Ziel. Viola strahlt, wischt sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. »War richtig klasse, Männe, das können wir jeden Sonntag machen.« Brägel sagt nichts mehr. Erst am Abend in der Kneipe. »Ich lass mich scheiden!«, mault er beim ersten Hefeweizen. Aber dann grinst er maliziös und beschließt, einen Kinderanhänger zu kaufen. Für Viola – damit die Mutter-Kind-Bindung während des Trainings nicht leidet.
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