WEIL …, WEIL …
BRÄGEL KANN AUCH NÜTZLICH SEIN: SEINE BESTEN AUSREDEN FÜR PLÖTZLICHE FORMSCHWÄCHEN. ZUR FREIEN VERFÜGUNG …
2001 bis 2004
So Buben; auf geht’s, suupi, jetzt nochmal richtig«, jubelt Brägel am Anstieg zum Col de la grande Finale. In Wahrheit heißt der Hügel natürlich nicht wie ein französisch-italienischer Eisbecher. Es ist eine namenlose Erhebung mit etwa 180 Meter Höhenunterschied, die immer am Ende der Trainingsrunde unseres Radclubs liegt. Aber wir wollten ja von Brägel berichten. Der also haut zwei Gänge hoch, geht aus dem Sattel, tritt, was er kann und zwar ziemlich exakt 24 Sekunden. Dann platzt Brägelchen wie zu erwarten, rührt in den Gängen, stellt die Knie seitlich aus, ruckt am Lenker und bleibt fast stehen. Wir fahren vorbei, grüßen freundlich. »Suupi«, ruft einer. Die anderen lachen.
Abends, im Clubhaus, erzählt uns Brägel mit stockender Stimme, warum es wider mal nicht ging. Er sei seit zwei Monaten Mitglied im esoterischen Zirkle »Kreisender Kosmos« und hätte zur seelisch körperlichen Läuterung just vor der Winterausfahrt vier Tage bei Gemüsebrühe und Mineralwasser gefastet.
Das sei zwar suupi, mache aber ein bisschen müde. Warum der Lapp jetzt einem Widergeburtsverein beigetreten ist, fragen wir erst gar nicht, weil es eh keiner glaubt, zumal Brägel gerade das zweite Weizen zu seinem Schniposa-Teller (Schnitzel, Pommes, Salat) bestellt. Mal abgesehen davon, dass der Menschheit nicht viel verloren ginge, wenn es Brägel nur einmal im Kosmos gäbe, fällt die Geschichte wohl eher unter die Rubrik »Beste Ausreden« – und darin ist der Mann Weltmeister, wenn nicht gar Master of the Universe. Keine Schwäche, die Brägel nicht haargenau erklären könnte. Im Folgenden deshalb seine Best-of-Liste, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Das Naheliegendste sind körperliche Probleme, die er allerdings exclusiv auf dieser Welt hat. Zum Beispiel die chronische Virusinfektion, die seit Monaten verschiedene Spezialisten deutschlandweit in Atem hält, die aber auch nicht so genau wissen, was dem Mann fehlt. Der Virus lässt den armen Kranken die meiste Zeit völlig in Ruhe und entfaltet seine zerstörerische Kraft nur bei körperlicher Beanspruchung, wobei durchzechte Nächte bei Weihnachtsfeiern nicht dazu gehören. Gut macht sich auch die Aussage, dass Nebenwirkungen der Medikamente, die er wegen seiner rätselhaften Infektion ständig einnehmen müsse, wichtige Stoffwechselvorgänge negativ beeinflussen und ein Verkleben der roten Muskelfasern zur Folge haben würden. Wahlweise zu diesem Szenario philosophiert Brägel nach peinlichen Auftritten am Berg über eine orthopädische Schwäche im rechten Kniegelenk. Dabei wirft er mit Ausdrücken wie Meniskus-Läsion, chronisch entzündeter Kapsel und ähnlichem um sich, kann aber mit dem final geschädigten Gelenk problemlos vier Stunden suupi Ski fahren. Wir raten ihm zu einer Operation, Brägel lehnt ab, weil »jede Narkose dein Leben um ein Jahr verkürzt«, wie er sagt. Angesehen davon, dass ein Jährchen angesichts seiner anstehenden Wiedergeburt locker zu verschmerzen sein dürfte, hat er dieses Wissen um die Narkosefolgen exclusiv.
Gern rharbarbert Brägel auch über Statikprobleme an und auf seinem Velo. Neulich hat er sich dabei selbst übertroffen. Der Lapp hat zu Geburtstag von seiner Viola suupi-neue Radsocken geschenkt bekommen, mit einer etwas dickeren Sohle, weil ja der Winter vor der Tür steht. Diese Socken waren dann für einen Schwächeanfall verantwortlich, den er damit erklärte, dass sich durch die dicke Sohle seine Sitzposition verändert habe. Er sei plötzlich vier Millimeter zu hoch gesessen und hätte deshalb seine urwüchsige Kraft nicht optimal aufs Pedal übertagen können. Himmel, hilf. Einer hat diese Geschichte tatsächlich geglaubt und die Sohlendicke seiner Socken vermessen. Kein Witz.
Vor jeder Ausfahrt unternimmt Brägel zudem exakte Vermessungen an seinem Rad. Zwischen Sattelspitze und Vorbau müssten eineinhalb Armeslängen Luft sein; wobei er meistens so draufsitzt, als habe er die Armlänge eines Orang Utan zum Maß genommen, und zwar zweieinhalbmal. Auch Messfehler zwischen Sattelunterseite und Tretlagermittelpunkt müssen oft als Grund herhalten. Peinlich war aber die Ausrede mit dem Sattelstand. Da die Sattelspitze sechs Grad zu steil nach oben ging, habe es ihm wegen verstärkten Hodendrucks die Blutversorgung im Oberschenkel abgestellt, jaulte er neulich.
Unerreicht sind Brägels psychologische Ausreden: Natürlich sei die Weltlage alles andere als suupi und wirke leistungsmindernd aufs Gemüt; vor allem durch die Baisse an den Finanzmärkten, Sabine Christiansens Trennung von ihrem Mann oder den Film »Drei Schwedinnen auf Ibiza« in RTL2. Warum gerade der? »Weil er erst um 02:45 Uhr anfing«, sagt Brägel, »war zwar suupi, aber jetzt bin ich müde.« Ganz neu ist die Eingebung, dass er sich in diesem Leben nicht so plagen soll, weil ihm die Wiedergeburt als Skilehrer in St. Moritz avisiert wurde. »Und da braucht man volle Power«, sagt Brägel.
Suupi. Wir nicken voller Verständnis und fragen ihn, ob er bei unserer 50-Kilometer-Weihnachtstour am 6. Dezember mitfahren will. »Natürlich bin ich dabei«, behauptet es, »im Moment bin ich suupi in Form«. Das wird sich ändern bis zum Start, das ist sicher. Wahrscheinlich waren dann die Zimtsterne schlecht, wenn es ihn wieder aus der Gruppe raushaut. Oder die Vorfreude auf das Nikolausfest mit seinem Junior ist schuld, oder das traurige Leben von Dieter Bohlen – warum auch immer. Wir werden’s erfahren. Subito.
CARBONRENTNER
DER GENERATIONENKONFLIKT MACHT BRÄGEL ZU SCHAFFEN. ALSO ERFINDET ER DEN KNIGGE FÜR RENNRADFAHRER
2005
Es ist nur ein kleiner Anstieg. Wir fahren locker dahin, als von hinten eine Gruppe anrollt. »Keinen Stress jetzt«, keucht Brägel, »lassen wir sie einfach vorbei.« Auch der alte Hans nickt eifrig. Na gut. Es ginge zwar noch was, aber es muss ja nicht jedes Mal Rennen sein. Die anderen fahren vorbei, wir grüßen freundlich. Keine Antwort. Der alte Hans hebt mangels Luft die Hand. Keine Reaktion. »SERVUS«, kräht Brägel, als sie fast schon vorbei sind, aber die anderen bleiben stumm, schauen hinter ihren verspiegelten Brillen starr nach vorn, nach links oder durch uns durch. Lauter junge, schlanke Kerle. Einer rotzt (nach rechts), die anderen schweigen. Als der letzte vorbei ist, hören wir deutlich: »Viel Kohle, kein Tritt – typisch Carbonrentner.« Die anderen Schnösel lachen. »Los, die blasen wir aus den Schuhen«, ächzt Brägel. Ich mache ihm klar, dass er fast am Limit ist, die da vorn aber höchstens im Standby rollen, dass die Lackel fast unsere Söhne sein könnten und die beste Reaktion unsererseits jetzt gar keine ist. Brägel fügt sich schnaubend, der Präsident murmelt ein gequältes »Pedalpack, mistiges«, wir rollen schweigend weiter und hängen dunklen Gedanken nach.
Zwei Stunden später im Clubhaus die Aufarbeitung. Wir fragen uns, ob wir selbst früher auch derart respektlos gegenüber älteren Sportkumpeln waren. Der alte Hans verneint, wobei nicht sicher ist, ob es überhaupt schon ältere Rennradler gab, als Hans jung war. Damals waren gestandene Männer schließlich mit dem Wiederaufbau, dem Wirtschaftswunder und der Produktion geburtenstarker Jahrgänge beschäftigt. Brägel meint, dass er als Jugendlicher im Fußballverein den Kickern der AH immer die Sporttaschen getragen hat, was wir nicht so recht glauben wollen. Wahrscheinlich hat er da Biermarken fürs Sommerfest bekommen. Es besteht also der begründete Verdacht, dass wir auch nicht anders waren und den Respekt vor Älteren erst entwickelt haben, seit wir selbst morgens nur noch mit Dehnübungen für Kreuz und Knie in die Senkrechte kommen, also so ungefähr ab Mitte 30.
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