Franz von AssisiFranz v. Assisi in der Komödie (1944)
Nicht sehr viele Stellen des Paradiso sind so bekannt und so allgemein bewundert: wie der elfte Gesang; das ist nicht erstaunlich, denn es handelt sich um Franz von Assisi, und die Verse sind besonders schön. Und doch ist die Bewunderung für diesen Gesang nicht ganz selbstverständlich. Franz war eine der eindrucksvollsten Gestalten des Mittelalters. Das ganze 13. Jahrhundert, dem DantesDante Jugend noch angehört, war gleichsam erfüllt von ihm, und keines anderen Menschen Art, Stimme und Gebärde sind uns aus dieser Zeit so deutlich erhalten wie die seinen. Das zugleich Einsame und Volkstümliche seiner Frömmigkeit, das zugleich Süße und Herbe seiner Person, das zugleich Demütige und Grelle seines Auftretens sind unvergeßbar geblieben; Legende, Dichtung und Malerei bemächtigten sich seiner, und noch lange später schien jeder Bettelmönch auf der Straße etwas von ihm an sich zu tragen und so es tausendfach zu verbreiten. Seine Erscheinung hat gewiß viel dazu beigetragen, den Sinn für das Eigentümliche und Ausgeprägte des einzelnen Menschen zu wecken und zu schärfen; eben jenen Sinn, dessen großes Denkmal DantesDante Komödie ist. Man sollte also von der Begegnung der beiden, das heißt vom Auftreten des Heiligen in der Komödie, einen der Höhepunkte konkreter Lebensdarstellung erwarten, deren es so viele in der Komödie gibt; DanteDante fand in der damals schon halb legendären Biographie Franzens überreichlich Material, um diese Begegnung zu gestalten. Um so seltsamer ist es, daß er die Begegnung gar nicht stattfinden läßt.
Fast alle Personen der Komödie erscheinen selbst. DanteDante trifft sie an dem Ort, den das Urteil Gottes ihnen angewiesen hat, und dort ergibt sich eine unmittelbare Begegnung in Rede und Antwort. Mit Franz von AssisiFranz v. Assisi ist es anders. Zwar sieht ihn DanteDante ganz am Schluß des Gedichts, auf seinem Sitz in der weißen Rose zwischen den Seligen des Neuen Bundes; aber er spricht nicht mit ihm, und an den anderen Stellen, wo er erwähnt wird, erscheint er nicht selbst; so auch da, wo die Erwähnung am ausführlichsten und grundsätzlichsten geschieht, eben im elften Gesang des Paradiso ; Franz spricht nicht selbst, sondern es wird über ihn berichtet. Ist dies schon erstaunlich, so ist es noch mehr Rahmen und Art des Berichtes.
DanteDante und Beatrice sind im Sonnenhimmel von einem singenden Reigen seliger Geister umgeben, die, ihre Bewegung unterbrechend, sich als KirchenväterKirchenväter und Weisheitslehrer zu erkennen geben; einer von ihnen, Thomas von AquinoThomas v. Aquin, nennt und charakterisiert sich und seine Gefährten (hier ist auch die berühmte Stelle über Siger von BrabantSiger v. Brabant), und alsbald beginnt der Reigen von neuem. Nun hat aber DanteDante den Sinn einiger Worte des Thomas nicht verstanden: Ich war ein Lamm der Herde des DominicusDominicus, Hl., wo man gute Weide findet, wenn man nicht abirrt – dieser Vers, u’ben s’impingua se non si vaneggia (und auch noch eine andere, auf Salomo bezügliche Stelle) bedarf für DanteDante einer Erklärung. Thomas, der wie alle Seligen die unmittelbare Schau des ewigen Lichtes besitzt, so daß ihm durch dasselbe auch DantesDante Gedanken nicht verborgen bleiben können, erfüllt den unausgesprochenen Wunsch nach Erläuterung seiner Worte, und aufs neue werden Gesang und Reigen unterbrochen, damit Thomas, von BonaventuraBonaventura unterstützt, seine Worte kommentieren kann. Dieser Kommentar umfaßt drei Gesänge. Im ersten, dem elften, erzählt Thomas das Leben des heiligen Franz und knüpft daran eine Klage über den Verfall seines eigenen, des dominikanischen Ordens; im zwölften schildert umgekehrt der Franziskaner BonaventuraBonaventura das Leben des DominicusDominicus, Hl. und schließt mit einem Tadel der Franziskaner; der dreizehnte Gesang enthält, wiederum aus Thomas’ Munde, den Kommentar über die König Salomo betreffende Äußerung. Aus den beiden Gesängen über die BettelordenBettelorden sollen DanteDante und der Leser lernen, daß beide Orden für das gleiche Ziel gegründet wurden, daß sie sich ergänzen und daß bei beiden das Leben der Stifter gleich vollkommen, der Abfall der Nachfolgenden gleich abscheulich war; daß man also in ihnen wohl gedeiht, wenn man dem Vorbild der Stifter folgt und nicht davon abirrt. Beide Gesänge sind ein Kommentar, lehrhaft, genau eingebaut in DantesDante Geschichtsdeutung, mit scharfen polemischen Wendungen nicht nur gegen die beiden Orden, sondern auch gegen PapsttumPapsttum und Geistlichkeit überhaupt. Zu dem Kommentar gehört auch die Darstellung von Franzens Leben; sie ist Teil eines Kommentars, und zwar eines mehrere hundert Verse umfassenden Kommentars, zu einem Nebensatz, der eine Zeile in Anspruch nimmt und der wohl auch kürzer zu erläutern gewesen wäre. Dies also ist der Rahmen: Thomas, der große Kirchenlehrer, kommentiert ausführlich einen eigenen Ausspruch. Solche Haltung oder Tätigkeit entspricht seiner Person; aber ist dies ein Rahmen, der der Biographie des Franciscus von AssisiFranz v. Assisi entspricht? Nach modernem Empfinden gewiß nicht. Wir haben zwar gelernt, die Art des mittelalterlichen Kommentierens aus ihren Voraussetzungen zu verstehen; wir wissen, daß sie aus der besonderen Art des damaligen Lehrbetriebes erwuchs; wir haben auch vielleicht sonst schon erfahren, daß sich in dem Geranke der kommentierenden Paraphrase zuweilen eine unvermutete Blüte findet, die der Stamm, nämlich der Text, kaum erwarten ließ, und oft genug ist er völlig verdeckt vom Kommentar; ja, dies Phänomen scheint sich nicht nur auf die Literatur zu beschränken, wenn man an manches InitialInitial oder an manche SequenzSequenz denkt. Aber hier, wo DanteDante das Leben des heiligen Franz erzählen will? Wäre dafür nicht ein weniger lehrhafter, weniger scholastischer Rahmen zu finden gewesen?
Nicht genug damit. Die Biographie, die Thomas gibt, enthält von all den bezaubernden und so überaus konkreten Einzelzügen, die die franziskanische Legende aufbewahrt hat, nur sehr wenig. Zwar das Hauptsächlichste, Geburt, Aufbau des Werkes und Tod sind der Überlieferung gemäß erzählt, aber nichts einzelnes, das zur anekdotischen Belebung dienen könnte; und auch das Hauptsächliche nur gleichsam aktenmäßig, in chronologischer Reihenfolge: Geburt, Armutsgelübde, Gründung des Ordens, Bestätigung durch den Papst InnocenzInnocenz (Papst), zweite Bestätigung durch Honorius, Missionsfahrt, Wundmale, Tod. Die Wandmalereien in Assisi erzählen viel mehr, und sie erzählen weit bunter, anekdotischer – von den verschiedenen literarischen Fassungen der Legende ganz zu schweigen. Und noch etwas kommt hinzu: bei DanteDante hat die Biographie außer dem äußeren Rahmen des Kommentars, dessen Teil sie ist, auch ein inneres Leitmotiv, und zwar ein allegorisches. Das Leben Franzens wird dargestellt als Ehe mit einer allegorischen Frauengestalt, der Armut. Wir wissen zwar, daß dies ein Motiv der franziskanischen Legende war; aber war es notwendig, dies Motiv zum beherrschenden zu machen? Wir haben, soweit wir Spezialisten für mittelalterliche Kunst oder Literatur sind, allmählich und etwas mühsam gelernt, daß die AllegorieAllegorie für bestimmte Gruppen mittelalterlicher Geistigkeit etwas anderes, Wirklicheres bedeutete als für uns – daß man in der Allegorie eine Konkretisierung des Gedankens sah, eine Bereicherung der Möglichkeiten, ihn auszudrücken. Aber das hat einen ihrer eifrigsten und verständnisvollsten Neuentdecker, HuizingaHuizinga, J., nicht gehindert, sie doch etwas abschätzig «die Wucherpflanze aus dem Treibhaus der Spätantike» zu nennen. Bei aller Erkenntnis ihrer Bedeutung können wir das Dichterische an ihr nicht mehr spontan fühlen. Und doch gibt uns DanteDante, der so viele Menschen unmittelbar reden läßt, die lebendigste Gestalt der ihm vorausgehenden Epoche, Franz von AssisiFranz v. Assisi, im Gewand eines allegorischen Berichtes. Was fast jeder spätere Dichter getan hätte, und was er selbst so oft tat, worin er der erste Meister war, nämlich den Menschen selbst in Wort und Gebärde aufs Konkreteste und Persönlichste zu gestalten, das tut er hier nicht. Der Kirchenlehrer Thomas berichtet von der Hochzeit des Heiligen mit der Frau Armut, damit DanteDante versteht, was es bedeutet, daß man in der Herde des DominicusDominicus, Hl. gute Weide findet, wenn man nicht abirrt.
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