Er wollte nicht. Ich konnte es nicht fassen. Ich bot ihm die Unsterblichkeit an, und er wollte nicht. ‚Was ist?‘, fragte ich ungeduldig.
„Vernunft lässt sich nicht verschenken wie ein Teil der Jagdbeute. Sie muss mit der Magie des Körpers übertragen werden. Und kein Drache legt sich zu einem Tier.“
‚Was?‘, schrie ich. ‚Was glaubt Ihr denn, was unsere Götter getan haben? Sie haben sich in der Gestalt von Tieren zu uns Menschen gelegt, denn der Anblick eines Gottes aus nächster Nähe ist nicht zu ertragen und hätte jeden von uns auf der Stelle getötet. Außerdem: Ihr paart Euch nicht mit einem Tier, auch wenn es sich so anfühlen mag. Ihr paart Euch mit der Schönheit der Schöpfung oder mit der Erinnerung der einstigen Größe Eures eigenen Volkes und erhebt so das Niedere zu einer bisher nicht vorstellbaren Größe. Kennt Ihr nicht die Schönheit in unserer Welt? Sie gibt es überall, so wie auch das Hässliche überall sein Haupt erhebt. Geht und sucht die Schönheit, erkennt sie und findet sie erneut in dem Teil der Welt, der lebt. Die Schönheit ist einfacher zu finden als alte Erinnerungen, die sich bereits anstrengen zu verlöschen.‘
Und dann geschah es. Der Krieger wuchs, bildete Kopf, Schweif und Flügel aus und schwang sich mit einem einzigen Flügelschlag in die Luft. Mir blieb nur ein flüchtiges Bild des Altvaters, denn Staub, Sturm und Schrecken holten mich von den Füßen und nahmen mir die Sicht. Meinen Gläubigen erging es auch nicht besser. Zwar blieben sie stehen, da sie sich entfernt von uns aufhielten, aber dafür kniffen sie ihre Augen so fest zu, dass es fraglich war, ob sie sich wieder öffnen ließen. Der Drache hatte mich verlassen. Das ist der erste Teil meiner Geschichte.“
Tama schnappte nach Luft und rang um Fassung. Ihre Gedanken rasten zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her. Wenn es stimmte, was der Geist ihr soeben erzählt hatte, dann musste der Altvater Drache sich überwunden und doch einigen Tieren die Vernunft geschenkt haben. Dann war er allein war für das Erscheinen der Gestaltwandler verantwortlich. Ob er sich mit den Tieren gepaart oder einen anderen Weg gefunden hatte, würde sie vielleicht noch erfahren. Aber was für seltsame Wege sich die Wahrheit doch manchmal suchte. Nach dem Betrug eines Drachen hatte sie gefragt, und auf die Antwort wartete sie immer noch. Aber dafür hatte sie etwas anderes bekommen. Ungefragt und unerwartet hielt sie nun die Lösung des größten Geheimnisses dieser Welt in den Händen. Sie wusste nun, woher die Gestaltwandler kamen. Sie allein, wenn sie von diesem Geist einmal absah, wusste davon. Oder vielleicht doch nicht nur sie allein?
„Erzählt weiter“, drängte Tama ungeduldig. „Wenn ich Euch helfen soll, muss ich alles wissen.“
„Ihr wollt mir tatsächlich helfen? Was verlangt Ihr dafür? Ich gebe Euch alles, wozu ich in der Lage bin. Es ist ein geringes Versprechen, denn um mir tatsächlich zu helfen, müsstet Ihr stärker sein als ein unsterblicher Drache. Und das ist unmöglich. Aber allein für Eure Absicht möchte ich mich bedanken. Und wie es weiterging? Dann hört jetzt den zweiten Teil meiner Geschichte:
Ich stand wieder einmal vor meiner Gebetsstätte und sprach zu den Menschen, die noch bereit waren, einem Gott zu folgen und demjenigen, der zu ihm sprechen konnte, mit etwas Geld zu unterstützen. Da sah ich plötzlich unter den Gläubigen einen Pilger. Meine Leute traten erschrocken zurück, als sie ihn sahen, denn es schien, als wäre dieser fromme Mann des Wahnsinns.“
Der Geist machte eine Kunstpause. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte er wohl ein oder zwei tiefe Atemzüge genommen oder einen Schluck getrunken, um seine trockene Kehle anzufeuchten. Wer Geschichten erzählt, weiß, wann er eine Pause zu setzen hat.
„Ihr könnt Euch denken, wer der fremde Pilger war. Er wollte nicht auffallen. Deshalb verzichtete er auf die Gestalt des Kriegers. Aber es war zu viel Altvater in ihm, als dass es ihm gelingen konnte, nur einer unter vielen zu sein. Erneut überragte er alle anderen um einen Kopf, und ihm wuchs ein Bart von Kinn und Wangen, der so lang war, dass er ihn wie einen Gürtel um den Leib schlingen musste. Und in seinem Schädel brannten zwei Augen in unheilvoller Glut. Drachenfeuer, nahm ich an.
‚Tretet näher‘, sprach ich zu ihm. ‚Ihr wart lange fort. Ich hatte beinahe schon die Hoffnung aufgegeben, Euch jemals wiederzusehen.‘
‚Ich bin gekommen, um zu beten‘, sagte der Altvater unerwartet demütig und so laut, dass alle Umstehenden ihn hören konnten.
Ich schaute ihm in die Augen und für einen Moment versagte mir die Stimme. ‚Kommen wir deshalb nicht alle hierhin, mein guter Freund, und brauchen wir nicht alle ein solches Zwiegespräch, wenn wir eine große Aufgabe erledigt haben und feststellen, dass der entscheidende Schritt noch vor uns liegt. Ihr seid am richtigen Ort und kommt zu einer richtigen Zeit, weil von nun an jede Zeit für Euch die richtige ist. Aber vor allem steht Ihr vor dem richtigen Mann, der Euch geleiten kann.‘
Und zu den Umstehenden sagte ich: ‚Ein hoher Gast ist zu uns gekommen. Merkt euch seine Erscheinung. Die Welt wird noch viel von ihm hören, und ihr werdet morgen die Ersten unter ihnen sein. Doch für heute soll es uns genügen. Erlaubt mir, dass ich meinen Gast im Haus unter dem hohen Dach bewirte. Die Geister unserer Ahnen werden uns folgen.‘ Und mit diesen Worten führte ich den Altvater in das Haus und ließ mir berichten.
‚Die Schönheit zu finden, war leicht‘, erzählte der Fremde. ‚Ich flog über die höchsten Bergspitzen der Drachenberge und erfreute mich an dem glitzernden Eis über der Schwärze des Gesteins und am satten Grün der Büsche und Bäume. Doch half mir diese Schönheit nicht weiter. Deshalb verließ ich den Himmel und suchte das Leben auf einer Lichtung voll von Gras und Kräutern. Dort verwandelte ich mich in einen Steinbock, mit schwerem Gehörn und dichtem Bart. So wie deine Götter es einmal taten. Ich hatte kaum etwas von dem Gras abgerupft und einige der Kräuter gekostet, als ich ein Lachen hörte und drei Frauen aus dem Volk der Elfen vor mir sah. Sie waren schön. Jede auf ihre Weise. Ihre Gesichter besaßen eine Ebenmäßigkeit, die allen anderen Lebewesen fehlte. Und so waren sie besonders. Auch bewegten sie sich, als würden sie schweben und standen so zwischen den Wesen, die flogen, und denen, die gingen. Aber sie besaßen bereits die Vernunft. Und so vergnügte ich mich mit ihnen, ohne an meine Aufgabe zu denken. Mehr gäbe es nicht zu berichten, wenn nicht unser Tun auch die Tiere des Waldes angelockt hätten, sie uns zusahen und zu verstehen begannen. Nachdem ich das bemerkte, umgab ich mich mit Vögeln oder Schlangen, mit Echsen und Fledermäusen und ließ sie an meiner Magie des Augenblicks teilhaben. Die Waldelfen lachten über mich und meine Vorlieben, doch fühlten sie sich sicher, wenn ich bei ihnen war. Was nun? Den ersten Schritt habe ich gesetzt, die Tat ist vollbracht. Jetzt tue das deine.‘
‚Ihr macht es mir leicht‘, antwortete ich. ‚Lasst mich Euch zunächst einmal gratulieren, ältester und größter aller Drachen. Ihr habt aus den Wesen eines anderen Volkes Gefäße der alten Macht getöpfert und in ihnen mithilfe der Vernunft Magie angehäuft. Lebendige Gefäße für eine alte Macht. Jetzt sorgt noch dafür, dass diese Gefäße auch genutzt werden. Sorgt dafür, dass das Volk der Drachen Eurem Beispiel folgt. Fügt das Blut der Tiere Eurem Volk hinzu. Erfrischt Eure eigene Lebenskraft und die aller Drachen mit der Lebenskraft der Kinder Eurer Vorfahren. Sorgt dafür, dass es keinen Drachen mehr gibt, in dessen Adern nicht das Blut Eurer Vorfahren fließt, und Ihr habt vollbracht, was ich für unmöglich hielt. Die Elfen waren nur ein Werkzeug auf dem Weg, den Ihr zu gehen hattet.‘
‚Was du verlangst, hat schon begonnen. Warum, glaubst du, komme ich so spät? Mit den eigenen Augen konnte ich mich davon überzeugen, dass verwandelte Vorvorfahren meine Drachen besuchten und nicht abgewiesen wurden. Ich habe es erlaubt und werde es erst dann verbieten, wenn ich glaube, dass das Drachenblut zu dünn wird.‘
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