Ich sage Ihnen, jeder Künstler hätte sich einen so kreativen Denker im Team nur wünschen können. In kreativen Fächern Noten dafür zu geben, wie das »Produkt« am Ende aussieht, halte ich für vollkommen sinnfrei und demotivierend. Ich kenne viele Schüler, die sich feinmotorisch enorm schwertun, jedoch unglaublich kreative Köpfe sind.
Auch im Sportunterricht sind Noten nicht erforderlich und oftmals nicht gerecht.
Bei meiner Tochter im Sportunterricht mussten immer die zwei Schüler gegeneinander um die Wette rennen, die im Alphabet auf der Klassenliste hintereinanderstanden. Annika (ca. 1,50m groß) und eher unsportlich und Tim (ca. 1,90m groß) und Handballer. Jedes Halbjahr derselbe Ablauf: Annika mühte sich sichtbar ab und gab alles, was in ihr steckte, um möglichst schnell von der Stelle zu kommen. Tim joggte lässig an ihr vorbei. Am Ende gab es für Annika eine 4 oder 4- und für Tim eine 2+. Er war ja deutlich schneller gewesen.
Sicher ist das kein Regelfall, dennoch kenne ich solche Erzählungen in so vielfältigen Ausführungen, dass ich es wage zu behaupten, dass es sich bei dieser Art von Bewertung nicht um einen Einzelfall handelt.
Und ich verstehe die Stimmen, die nun sagen »Ja, aber es gibt ja auch die Kinder, die andere Noten ausgleichen, durch die guten Noten, die sie in kreativen und sportlichen Fächern bekommen.« Ja; aber da wäre es doch wünschenswert, dass ich mir als Kind und Heranwachsender diesen sportlichen, kreativen oder gestalterischen Bereich selbst wählen kann. Ob jemand dann Jonglieren, Tanzen, Klavier spielen, Skaten oder Gärtnern wählt, bleibt ihm selber überlassen. Ich bin zudem überzeugt, dass viele Bewertungen und Noten sicher mit mehr Bedacht und Wohlwollen gegeben würden, wenn auch Lehrer ihrerseits ein Zeugnis von Schülern erhalten würden.
Dass Schule darauf ausgelegt ist, Schüler anhand ihrer Resultate einzuordnen und zu messen, ist traurig genug. Denn: Sind es wirklich die Noten, auf die es am Ende ankommt? Ich hoffe, Sie stimmen mir bei meinem vehementen »Nein« zu. Es gibt heutzutage so viele neue Wege, die Kinder gehen können. So viele Chancen, sich nach der Schule zu verwirklichen, erfolgreich zu sein. Kinder, die nach der Schule um ihre Qualitäten wissen, sind dabei deutlich besser aufgestellt als Kinder, die sich nur anhand der eigenen Noten einordnen. Denn eine Note verrät mir noch nicht: »Was möchte ich machen?« »Wofür kann ich mich begeistern?« »Wo habe ich viel Ausdauer?« »Was macht mir besonders Spaß?« »Was kann ich – unabhängig von Fächern – besonders gut?« »Wo liegen meine Stärken?« und »Was sind meine persönlichen Qualitäten?«
Ich habe viele Kinder und Heranwachsende kennengelernt, die ihren beruflichen Weg gefunden haben – unabhängig von Noten und Zeugnissen. Sie alle hatten besondere Qualitäten. Was sie auszeichnete war, dass sie freundlich, hilfsbereit, ausdauernd, engagiert, umsichtig, geduldig, pünktlich, neugierig, interessiert, zuverlässig, aber auch kreativ, innovativ, mutig, verrückt uvm. waren.
Brian ist ein hochgewachsener hübscher junger Mann, als ich in kennenlerne. Er besucht die 8. Klasse, hat eine diagnostizierte Lese-Rechtschreibstörung und die Diagnose ADHS. Ruhig sitzen ist für ihn eine Qual. Seine Mutter beschreibt, dass er schon als Kleinkind unruhig war, sehr impulsiv und kaum zu bändigen. Sämtliche Arten von Schaltern und Schlüsseln hätten es ihm als 2–3-Jährigen besonders angetan und waren vor ihm nicht sicher. Seit er im Kindergarten war, gab es immer wieder Probleme, weil Brian nicht ruhig sitzen konnte. Heute ist er 15 Jahre alt und seine Lehrerin verzweifelt an ihm. Ständig kippelt er mit dem Stuhl, ruft ungefragt dazwischen und ist mit Abstand das Kind in der Klasse, das am häufigsten ermahnt und herausgeschickt wird. Seine Stärke jedoch ist sein Charme und dass er überhaupt nicht nachtragend ist. Die Ermahnungen der Lehrerin prallen an ihm ab und wenn sie auf körperliche Hilfe angewiesen ist, ist Brian der erste, der zur Stelle ist. Dabei ist er immer gut gelaunt und strahlt. Aber die Eltern sind in Sorge, nicht nur, weil der Schulabschluss für Brian schwer erreichbar ist, sondern auch, weil er nicht weiß, was er beruflich einmal machen wird. Was soll denn aus ihm werden? Und »wer nimmt den denn«? Das waren die Sorgen der Eltern.
Machen wir einen Zeitsprung. Zwei Jahre später, der Schulabschluss stand kurz bevor und es war zu erwarten, dass Brian es mit Ach und Krach schafft. Immerhin! Die Eltern waren erleichtert, aber eine Perspektive gab es noch nicht.
Und dann geschah Folgendes: Es gab eine große Veranstaltung für die Schulabgänger in einer Messehalle, wo Unternehmen sich vorstellten und ihre Ausbildungsplätze anboten. Die kompletten Abschlussjahrgänge tummelten sich in dieser Halle, und natürlich auch Brian. Da entdeckte er an einem Stand eine Schale mit Süßigkeiten, die ihn sehr reizten. Aber natürlich griff er nicht einfach nur dreist nach den Süßigkeiten, sondern er setzte seinen ganzen Charme ein und verwickelte den Mann hinter dem Stand in ein Gespräch, um so die ursprüngliche Idee, in der Nähe der Süßigkeiten zu verweilen, in die Tat umzusetzen. Er war charmant, interessiert, offen und auch ehrlich, denn er erwähnte durchaus seine Schulschwierigkeiten, erzählte und … es dauerte zwanzig Minuten, da bot ihm der Mann mit folgenden Worten einen Ausbildungsplatz an: »Junge, so einen wie dich könnte ich gut gebrauchen.« So fand Brian seinen Ausbildungsplatz als Kaufmann in einem exklusiven Goldschmiedegeschäft. Er durfte jeden Tag das tun, was er schon als Kind unter anderem gerne tat … Schränke auf- und zuschließen, um teure Rolexuhren und wertvollen Schmuck zu sichern.
So wie Brian gibt es viele Jugendliche, die ihren Weg finden und gefunden haben und die bewiesen haben, dass alle Behauptungen, a la »aus dir wird später nichts, wenn du nicht …«, unsinnig und darüber hinaus erniedrigend sind.
Wenn ich sagen sollte, welche Erfahrungen aus der Schulzeit oder dem Studium ich nicht missen möchte, so ist der Anteil sehr gering bis unwichtig. Aber es gab Personen, Orte und Erlebnisse, die mich stark beeindruckt und beeinflusst haben.
Kinder sollten erhobenen Hauptes durch die Schulzeit gehen und nicht mit hängenden Schultern.
Schule soll stark machen. Dafür brauchen wir Pädagogen und Eltern, die neue Wege gehen wollen, damit ihre Kinder ihr Potenzial entfalten können. Es muss einen Zwischenweg geben, eine Alternative zwischen »Die Lehrer machen das alleine, Eltern halten sich raus und wissen gar nicht wirklich, was ihre Kinder da in der Schule so tun und lernen« und »Die Eltern haben das Gefühl, alles auffangen zu müssen, wobei das Lernen Zuhause ständig zu Stress führt«. Es gibt Eltern, die sich für das Lernen ihrer Kinder interessieren und Anteil nehmen an den damit verbundenen Erwartungen. Sie sehen ihr Kind, und im Vordergrund steht, ob es dem Kind gut geht. Allerdings gibt es auch Eltern, die Zuhause Nachhilfelehrer ersetzen und zum verlängerten Arm der Lehrer werden. Sie setzen den Druck, dem die Kinder in der Schule ausgesetzt sind, fort. Ein kreativer Zwischenweg wäre für mich die Lösung. Ein erster Schritt wäre es, mehr über das Lernen an sich zu erfahren.
Überall da, wo sich die Schullandschaft verändert, wo neue Schulformen initiiert werden, findet man Eltern, denen das Lernen ihrer Kinder nicht egal ist, die sich einsetzen, nach neuen Wegen suchen und diese mitgestalten.
Nun, darum soll es in den nächsten Kapiteln zunächst einmal gehen. Wie funktioniert Lernen und was können wir tun, damit Lernen ohne Stress und Druck abläuft? Was ist die absolute Basis für erfolgreiches Lernen? Wie lassen sich Bewegung, Kreativität und Spaß ins Lernen integrieren? Der Weg zu einem Bildungssystem, das stark macht und auf die Qualitäten der Kinder vertraut, mag lang und steinig sein, doch je mehr wir wissen, wie Lernen entspannt funktioniert und dafür unsere Wahrnehmung schärfen, desto größer ist die Chance auf Veränderung.
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