In jüngerer Zeit schlug der Psychopathologe Christian Scharfetter eine durch »deskriptive, phänomenologische, existenzanalytische und psychoanalytisch-psychodynamische« Ansätze modifizierte Klassifikation des Selbsterlebens nach Jaspers vor (Scharfetter 1995, S. 71 ff.). Danach setze sich das Ich-Bewusstsein aus fünf basalen Dimensionen zusammen: (1) Vitalität, (2) Aktivität, (3) Kontinuität, (4) Demarkation und (5) Identität.
1. Die »Ich-Vitalität« stellt die Gewissheit der eigenen Lebendigkeit dar. Ihre Störung manifestiert sich im Gefühl des Absterbens bzw. in einem darin begründeten hypochondrischen Wahn, in der Angst vor dem Weltuntergang oder dem Nicht-mehr-Sein.
2. »Ich-Aktivität« ist das Erleben der Selbstbestimmung des eigenen Erlebens, Denkens und Handelns. Ihre Beeinträchtigung geht mit dem Erleben von Fremdbeeinflussung oder -steuerung des Fühlens, Denkens oder Handelns einher und kann in einen Beeinflussungswahn münden. Auch eine Beeinträchtigung der Intentionalität des Denkens, Gedankenabreißen oder -entzug, Echopraxie, Echolalie oder Stereotypien erklärte Scharfetter durch eine mangelnde Ich-Aktivität.
3. »Ich-Konsistenz« oder -Kontinuität bezeichnet die Zugehörigkeit wechselnder Zustände und unterschiedlicher Selbstanteile zu einem einheitlichen Selbsterleben. Störungen der Ich-Konsistenz führen zur Desintegration von Selbstanteilen oder Selbstfunktionen, wie etwa bei der Entfremdung von Leibempfindungen (Coenästhesien), von Gedanken (Stimmenhören) oder Handlungen (Willensbeeinflussung), bis hin zur Persönlichkeitsverdoppelung oder -auflösung.
4. Die »Ich-Demarkation« entspricht der Ich-Umwelt-Abgrenzung bei Jaspers und Schneider. Ihre Beeinträchtigung äußert sich in Appersonierung oder Transitivismus, Gedankenausbreitung sowie, in Reaktion darauf, in eigenweltlichem Rückzug als Schutz vor dem drohenden Selbstverlust.
5. Die »Ich-Identität« schließlich stellt die Gewissheit der eigenen personalen, leiblichen, sexuellen und biografischen Identität dar. Ihr drohender Verlust manifestiert sich in Angst vor oder der Wahrnehmung von physiognomischen und Gestaltveränderungen (Spiegelphänomen),Geschlechtswechsel, Veränderung der Herkunftsidentität (Abstammungswahn) oder Verwandlung in ein anderes Wesen.
Scharfetter kommt der Verdienst zu, die noch primär auf die Diagnostik bezogenen Störungen des Selbsterlebens in der Schizophrenie bei Jaspers und Schneider um existenzielle Aspekte erweitert und sie zum Teil einer Psychopathologie gemacht zu haben, die die persönliche Wirklichkeit der Betroffenen berücksichtigte und daraus therapeutische Schritte ableitete. Seine Ich-Psychopathologie lässt auch viele Überschneidungen mit der Psychopathologie des Selbsterlebens erkennen, auf der das EASE- und das EAWE-Interview aufbauen. Allerdings unterscheidet seine Einteilung nicht klar zwischen den gravierenden Selbststörungen – vor allem den wahnhaften Ich-Störungen – in der akuten Psychose und den subtileren Störungen des basalen Selbsterlebens, wie sie für die neuere phänomenologische Psychopathologie der Schizophrenie in erster Linie relevant wurden. Diese tiefer liegende Ebene der Erkrankung erschließt sich erst phänomenologischen Ansätzen, wie sie in erster Linie von Eugène Minkowski und Wolfgang Blankenburg entwickelt wurden.
1.3.4 Eugène Minkowski – der »Verlust des vitalen Kontakts« als Grundstörung
Anders als Jaspers und Schneider stellte Eugène Minkowski, ebenfalls Psychiater und Philosoph, nicht die produktiven Symptome, sondern den »schizophrenen Autismus« als Ausdruck einer tiefgreifenden Störung des Selbst in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. 1927 erschien sein erstes Werk »La Schizophrenie«, 1933 sein Hauptwerk »Le temps vécu« (»Die gelebte Zeit«, 1971). Darin beschrieb er den Verlust des »vitalen Kontakts mit der Wirklichkeit« als die Grundstörung der Schizophrenie (»perte du contact vital avec la réalité«; Minkowski 1928/1997, S. 106). Diese führe schließlich zu einer fortschreitenden Verarmung und Erstarrung der Persönlichkeit – einer Art »verarmtem Autismus« (»autism pauvre«, Minkowski 1928/1997, S. 191), in dem die Erkrankung in Reinform in Erscheinung trete.
In seinen umfangreichen Untersuchungen des alltäglichen Lebens führte Minkowski aus, was unter dem »vitalen Kontakt« zu verstehen sei, nämlich die Fähigkeit, mit der Welt und mit anderen in Resonanz zu treten, von ihnen affiziert zu werden und angemessen zu reagieren, oder mit anderen Worten, eine präreflexive »Immersion« in die soziale Welt. Von dem französischen Lebensphilosophen Henri Bergson übernahm Minkowski darüber hinaus den Begriff des »élan vital«, ein vitalistisches Prinzip der Lebensenergie, das Minkowski auch im menschlichen »élan personnel« wirksam sah; gemeint ist der Grundantrieb, das eigene Leben zu führen und zu gestalten (Minkowski 1928/1997, S. 165 ff.). Dieser personale Elan sei durch eine Polarität zwischen zwei Prinzipien charakterisiert, nämlich Verbundenheit und Trennung, die Minkowski nach Bleuler auch als »Syntonie« und »Schizoidie« bezeichnete (Minkowski 1928/1997, S. 74 ff.).
In der Syntonie erlebt der Mensch, so Minkowski, den vitalen Kontakt mit der Realität in den Phänomenen der gelebten Zeit – der Gegenwart, der Dauer, der Kontinuität, dem Rhythmus kosmischer Prozesse ebenso wie in der Resonanz und Sympathie mit anderen, als »gelebten Synchronismus« (Minkowski 1928/1997). Zum personalen Elan gehört für Minkowski andererseits ein gewisses Maß an Schizoidie, d. h. an Distanzierung, Autonomie, Für-Sich-Sein und Trennung. Schizoidie und Syntonie stehen normalerweise in einem zyklischen Wechsel und Ausgleich. Im Falle einer überhandnehmenden Schizoidie jedoch tritt ein Erkrankungsprozess ein, der schließlich zur Schizophrenie führen kann.
In der schizophrenen Erkrankung ist der primäre Zyklus von Schizoidie und Syntonie gestört: Die Immersion in die Umwelt geht verloren, und mit dem »vitalen Kontakt« schwindet auch der personale Elan. Im Verlauf ihres autistischen Rückzugs entwickeln die Betroffenen nach Minkowski einen »pathologischen Rationalismus« und versuchen, die »Beweglichkeit des Lebens im Verstand einzusperren« (Minkowski 1928/1997). Während die dynamischen, flexiblen und anpassungsfähigen Aspekte ihrer Beziehungen verloren gehen, treten die festen, statischen und rationalen Elemente hervor – eine dem Konzept der »Hyperreflexivität« verwandte Beschreibung. Den resultierenden Autismus betrachtete Minkowski als eine »Störung der innersten Struktur des Selbst« (»trouble de la structure intime du moi« (Minkowski 1928/1997, S. 114), und damit zugleich im pathogenetischen Sinn als die Grundstörung (»trouble génerateur«) der Schizophrenie, von der die verschiedenen Kardinalsymptome ihren Ausgang nehmen.
1.3.5 Wolfgang Blankenburg – der »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit«
Auch der Psychiater und Philosoph Wolfgang Blankenburg bemühte sich »um die Freilegung dessen, was bei Schizophrenen im Grunde ihres Menschseins ›gestört‹ ist« (Blankenburg 1971, S. 4). Er verstand es als eine der wichtigsten Aufgaben der phänomenologischen Psychopathologie, »nach Abwandlungen des In-der-Welt-Seins gerade auch da zu fahnden, wo kein Wahn, wo keine abnormen ›Inhalte‹ im engeren Sinne vorliegen« (Blankenburg 1971, S. 2). Im Rahmen seines Habilitationsprojekts »Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« (Blankenburg 1971) interviewte Blankenburg über 400 Patienten mit Schizophrenie, die zwischen 1955 und 1967 in der psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg aufgenommen wurden, und wählte diejenigen aus, die »einer deutlichen Wahrnehmung ihres Verändertseins Ausdruck geben« konnten (Blankenburg 1971, S. 26). Mit einzelnen Patienten konnte Blankenburg auch schon vor dem ersten Ausbruch der Produktivsymptomatik sprechen. Bei ihnen erkannte er einen hohen Leidensdruck, den er – wie andere vor ihm – als Prodromalsymptomatik zusammenzufassen versuchte:
Читать дальше