Kircher und David (2003, S. 2) definieren das Selbst als »die allgemein geteilte Erfahrung, dass wir wissen, dass wir über die Zeit hinweg die gleiche Person sind, dass wir der Autor unserer Gedanken/Handlungen sind, und dass wir uns von der Umwelt unterscheiden«. Dies umfasst das sehr grundlegende, unmittelbare und implizite Empfinden, als Person eine Ganzheit zu bilden, verschieden von anderen zu sein und über die Zeit hinweg ein kontinuierliches Zentrum der eigenen Erfahrungen darzustellen. Bezug nehmend auf neuere phänomenologische, entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Konzepte wollen wir im Folgenden zwei grundlegende Formen dieses Selbsterlebens unterscheiden: (1) das basale, präreflexive oder leibliche Selbst und (2) das erweiterte, reflexive oder personale Selbst (Damasio 1999; Gallagher 2005; Rochat 2004; Zahavi 1999).
1. Das basale Selbst ist ein inhärenter Bestandteil aller Bewusstseinsprozesse. Es ist charakterisiert durch ein implizites, präreflexives (dh. unbewusstest) und verkörpertes Selbstgewahrsein (›Ich bin ich und ich selbst mache diese Erfahrung‹), das in jeder Erfahrung mitgegeben ist, ohne dass dafür eine explizite Introspektion oder Reflexion erforderlich wäre. Einen Baum zu sehen oder zu berühren, schließt immer auch das implizite Bewusstsein des eigenen Sehens oder Spürens und des eigenen Leibes im Hintergrund ein. Darin besteht die ›Erste-Person-Perspektive‹ oder ›Ipseität‹ (Klawonn 1991; Henry 1963). In der Literatur wird auch von einem »minimalen Selbst« (minimal self) oder »Kernselbst« (core self) gesprochen (Zahavi 2011; Cermolacce et al. 2007), da das basale Selbst das Minimum an Selbstsein beschreibt, das für ein subjektives Erleben erforderlich ist. Das basale Selbsterleben lässt sich nach Fuchs (2012) weiter in das ›primäre leibliche‹, das ›ökologische‹ (auf die Umwelt bezogene) und das ›soziale‹ (auf die anderen bezogene) Selbst differenzieren.
2. Das erweiterte, personale oder reflexive Selbst ist durch eine Reihe von eng miteinander verknüpften Fähigkeiten charakterisiert: (a) durch ein höherstufiges Bewusstsein der eigenen Zustände und Erlebnisse (introspektives oder reflexives Selbstbewusstsein), (b) durch die Fähigkeit, andere als intentionale Wesen zu verstehen und ihre Perspektive nachzuvollziehen (Perspektivenübernahme) (Tomasello 2002; Fuchs 2013); (c) durch die Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen zu kohärenten Geschichten zu verknüpfen (narrative Identität) (Carr 1986; Schechtman 1996); (d) durch ein begriffliches und biografisches Wissen von sich selbst (Selbstkonzept).
Eine Großzahl neuerer theoretischer und empirischer Forschungsarbeiten beschreibt eine Störung des basalen Selbsterlebens als charakteristisch für die schizophrene Erkrankung (Ardizzi et al. 2015; Benson et al. 2019; Fuchs 2005; Møller und Husby 2000; Parnas und Handest 2003; Parnas und Sass 2011; Thakkar et al. 2011). Vielfach werden die Veränderungen des Selbsterlebens der Betroffenen auch unter dem Begriff der Entkörperung (disembodiment) zusammengefasst und als psychopathologischer Kern oder Grundstörung der Erkrankung verstanden (Laing 1960; Fuchs 2001, 2005; Stanghellini 2004; Fuchs und Röhricht 2017). Störungen der Reflexivität oder der Perspektivenübernahme (»Theory of Mind«)sind nach dieser Konzeption eher als sekundäre Folgen der basalen Selbststörung zu verstehen. Dieser Grundstörung wollen wir im Folgenden anhand der historischen Entwicklung des Schizophreniekonzepts sowie aktueller psychopathologischer Erklärungsansätze nachgehen.
1.3 Schizophrenie als Selbststörung – ein historischer Rückblick
Frühe Beschreibungen von Selbstentfremdung oder Depersonalisation in der Psychopathologie waren nicht auf die heute im Schizophreniespektrum versammelten Erkrankungen beschränkt: Ein Sich-selbst-Fremdwerden im weiteren Sinne zeigte sich als so charakteristisch für psychische Erkrankungen, dass bereits der Psychiater Wilhelm Griesinger (1861) die Entfremdung als ihr Grundmerkmal ansah und die französische Psychiatrie sie generell mit dem Begriff aliénation (Entfremdung) bezeichnete.
1.3.1 Emil Kraepelin und Eugen Bleuler – Dementia Praecox und Schizophrenie
Die Frage nach der Grundstörung in der Schizophrenie beginnt mit deren erstmaliger Konzeption bei Emil Kraepelin. Er unterteilte die endogenen Psychosen 1896 in zwei Gruppen: einerseits die phasisch verlaufenden Psychosen mit vorherrschender affektiver Symptomatik, die er als »manisch-depressives Irresein« bezeichnete (Kraepelin 1899, S. 160); andererseits die Psychosen mit paranoid-halluzinatorischen, katatonen oder desorganisierten Syndromen und progressiv-chronischem Verlauf, für die er den Begriff »Dementia praecox« wählte 2 2 »Dementia praecox« zeigt eine Unterscheidung zur altersbedingten Form der kognitiven Degeneration (Demenz) auf: Das Adjektiv »praecox« bezeichnet das »vorzeitige« Auftreten der Erkrankung während oder nach der Pubertät (Kraepelin 1899). 3 Gesprochen [í:wi]
. Neben der psychotischen Symptomatik beschrieb Kraepelin verschiedene prodromale Anzeichen, die der Produktivsymptomatik vorausgingen:
»Oft gehen schon lange Zeit Erscheinungen von ›Nervenschwäche‹ voraus. Die Kranken werden still, gedrückt, teilnahmslos, ängstlich, dabei reizbar und widerspenstig, klagen über […] Erschwerung des Denkens, Mattigkeit, verlieren Schlaf und Esslust, ziehen sich von ihrer Umgebung zurück, wollen ins Kloster gehen, hören auf zu arbeiten, bleiben viel im Bett liegen. Dieser Zustand der unbestimmten Vorboten kann kürzere oder längere Zeit andauern« (Kraepelin 1899, S. 160).
Die eigentliche Psychose verstand er als eine Manifestation psychischer Funktionsstörungen, der »Grundstörungen der seelischen und geistigen Leistungen«. Sie führten zu einem Verlust der »inneren Einheitlichkeit von Verstandes-, Gemüts- und Willensleistungen«. Eine Abschwächung des Wollens und eine »Zersplitterung des Bewußtseins« sei die Folge, sodass das psychische Leben einem »Orchester ohne Dirigenten« gleiche (Kraepelin 1913, S. 668–747). Kraepelin hob darüber hinaus immer wieder die »Schädigung des Gemütslebens« hervor und sprach von einer gemütlichen Stumpfheit und Gleichgültigkeit, grundlosem Lachen, einem Verlust des Mitleids, Schwinden des Feingefühls und paradoxen Gefühlen (Kraepelin 1913, S. 668). Zusammengefasst äußerte sich die »Dementia praecox« für Kraepelin in kognitiv-dynamischen Beeinträchtigungen nach Art eines persistierenden Grundsyndroms (Kraepelin 1913, S. 177). Paranoid-halluzinatorische, katatone und hebephrene Symptome stellten nur vorübergehende Überlagerungen dieses Grundsyndroms dar. Kraepelin blieb in der Ausdifferenzierung dieser Grundstörung jedoch sehr unbestimmt. Darüber hinaus fand der Frühverlauf der Dementia praecox trotz seiner eindeutigen Erwähnung insgesamt wenig Beachtung.
In Abgrenzung zu Kraepelin prägte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler 1911 den Begriff der »Schizophrenie« bzw. der »Gruppe der Schizophrenien«. Bleuler verstand die »Aufspaltung des Geistes« (griech. schizo = ich spalte, phren = Geist) als Kernmerkmal der Erkrankung – nicht etwa ihren Verlauf und Ausgang. Zur besagten Aufspaltung gehörten laut Bleuler hauptsächlich eine mangelhafte Einheit des Denkens, Fühlens und Wollens: Das Ich der Betroffenen durchlebe »die vielfältigsten Veränderungen«, die durch die Dissoziation psychischer Vorgänge gekennzeichnet seien und z. B. zu einer »Spaltung der Persönlichkeit« sowie einem Verlust der Gerichtetheit des Denkens führten (Bleuler 1911, S. 58, 143). Er beschrieb zudem bereits Anomalien des Selbsterlebens, z. B. einen Verlust der »Transparenz« des Bewusstseins oder den »Transitivismus« als Verlust der Ich-Grenzen (Bleuler 1911). Später formulierte Bleuler sein Konzept der Grundstörung, die vor allem in einer »Assoziationsstörung« zu sehen sei. Seine Grund- oder Primärsymptome wurden später als die »3 As« zusammengefasst:
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