„Willst du jetzt zurück zum HQ?“, fragte sein Kollege.
„Das hatte ich vor, ja.“
„Okay. Ich bin mit dem Wagen da und kann dich hinfahren, wenn du willst.“
„Danke, ich springe nur schnell unter die Dusche.“
Hans beeilte sich und wusch sich, ganz ohne die Beschwingtheit, die auf einen Sieg gefolgt wäre. Verdammt, wie war es so weit gekommen? Hatte er seinen Gegner unterschätzt oder hatte er sich selbst, seine eigene Technik und Kondition überschätzt? Er zog sich an, so schnell er konnte, und setzte sich niedergeschlagen zu seinem Kollegen ins Auto.
„Lass von dir hören, wenn du Lust auf eine neue Runde hast!“, rief sein Partner ihm zu, bevor sie sich vor einem der Fahrstühle im Büro trennten. Hans nickte und grinste mit zusammengebissenen Zähnen. In den nächsten Stunden nahm das unbehagliche Gefühl allmählich ab, während er sich die Situation noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Wie gewöhnlich zu dieser Jahreszeit brach die Dunkelheit früh herein, und irgendwann wanderten seine Gedanken weiter zum nahenden Abend. Ob wohl ein guter Film lief? Was würde es zum Abendessen geben? Und hatte er noch einen guten oder wenigstens akzeptablen Wein zu Hause – nicht nur einen Kochwein, sondern etwas Richtiges, Süffiges? Hans griff nach seinem Mantel und war gerade im Begriff, das Büro zu verlassen, als das Telefon klingelte.
Er überlegte kurz, das Gespräch auf sein Handy umzuleiten, beschloss dann aber, noch eine Weile im Büro zu bleiben und die Angelegenheit dort abzuarbeiten. Er verschloss die Tür. Der Anrufer war jemand, mit dem er seit bestimmt fünf Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Oder sogar noch länger? Er hieß Ido Zakai – jedenfalls stand das so auf seiner Visitenkarte – und arbeitete in Jerusalem für den Mossad, den israelischen Geheimdienst. Genau wie Hans war Zakai ein ranghoher Mitarbeiter und trug Verantwortung in Überwachungsangelegenheiten. Mehr wusste Hans über dessen Tätigkeit für den Mossad allerdings nicht. In diesen Kreisen sprach man nur so viel über die Arbeit, wie es die Umstände erforderten. Sie hatten noch nie gemeinsam eine Mission geplant oder auch nur durchgeführt. Hans hatte Ido Zakai kennengelernt, als sie beide in einer unbedeutenden mitteleuropäischen Hauptstadt einer internationalen Konferenz zum Thema Sicherheitsfragen beigewohnt hatten. Durch Zufall hatten sie nebeneinandergesessen und so ein paar unterhaltsame Tage miteinander verbracht. Sie hatten die Vorträge verfolgt, sich Notizen gemacht und an ein paar Gruppenarbeitsrunden teilgenommen. Abends hatten sie ein paar Glas Wein getrunken und über alles Mögliche diskutiert, von Weltpolitik bis zur Fußball-WM. Hans hatte wohlwollend festgestellt, dass Zakai die übliche israelische Steifheit gegenüber dem schwedischen Staat und dessen Einwohnern vollkommen fehlte. Nach der Konferenz hatten sie noch ein paar Monate lang E-Mails ausgetauscht, bis der Kontakt nach und nach abgeebbt war. Aber jedes Mal, wenn Hans irgendetwas über Israel oder den Mossad las, kam ihm Ido Zakai wieder in den Sinn.
„ Is this Hans Edelstam? This is Ido Zakai from the Mossad. Remember me? “
„ Ido, what’s up? It’s Edelman, not Edelstam, otherwise you’re absolutely right! Good to hear from you. Haben lange nichts voneinander gehört, aber ich musste neulich an dich denken. Ihr werft wieder mit Bomben, habe ich vernommen?“
Ido ging auf den Scherz ein und feuerte direkt zurück.
„Alles ruhig und unter Kontrolle, wie üblich hier im Nahen Osten. Aber hier erzählt man sich, dass ihr vorhabt, in Norwegen einzumarschieren. All das teure Erdöl und so …“
Beide lachten und unterhielten sich dann eine Weile über Nichtigkeiten, bis Ido unvermittelt und wenig dezent das Gesprächsthema wechselte – Schluss mit dem ungezwungenen Plauderton.
„Hans, wir müssen reden. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen. Können wir uns so schnell wie möglich sehen? Je eher, desto besser. Ich bin nächste Woche beruflich in London. Meinst du, wir können uns dort treffen?“
Ein flüchtiges, aber angenehmes Gefühl durchströmte Hans. Eine kurze Dienstreise war immer eine willkommene Unterbrechung des Alltagstrotts. Und eine Möglichkeit, seiner Frau etwas Nettes mitzubringen. Das Squashspiel war schon wieder vergessen.
„Ich schau mal, was sich machen lässt. Ist deine E-Mail-Adresse noch aktuell? Dann melde ich mich morgen bei dir. Wir hören voneinander!“
Auf dem Weg nach draußen blieb Hans’ Blick auf seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe hängen, an seinem schmalen, kindlichen Gesicht mit der spitzen Nase, der hohen Stirn und den kurzrasierten Haaren. Jemand hatte ihn einmal als nondescript bezeichnet. Hans war sich sicher, dass das so viel wie nichtssagend bedeutete und nahm an, dass seine extrem lichten und hellen Augenbrauen ihren Teil dazu beitrugen. Eigentlich waren sie kaum existent, und es schien, als hätten die Leute aufgrund dessen Schwierigkeiten, sich an sein Gesicht zu erinnern. Es passierte höchst selten, dass man ihn auf der Straße wiedererkannte. Hans schenkte seinem Spiegelbild ein Lächeln. Jetzt würde er sich auf jeden Fall erst einmal auf den Heimweg machen – und bald auf den Weg nach London.
Eine gute Woche später saß Hans Edelman in der Lobby eines anonymen Flughafenhotels in der Nähe von London Heathrow. Die Schwingtüren öffneten sich, und herein trat Ido Zakai. Er war älter geworden. Der einst rabenschwarze Bart war nun von Grau durchzogen. Aber Ido trug noch immer dieselbe Brille. Wie mochte Hans wohl auf ihn wirken? Bestimmt auch keinen Tag jünger als damals. Sie bestellten jeweils ein Bier, und nach einer Weile fing Ido an, Hans nach seiner neuen Stelle auszufragen, seinem Zuständigkeitsbereich und seiner Position bei der Säkerhetspolisen, dem schwedischen Nachrichtendienst. Hatte sich irgendetwas verändert? War er immer noch für Überwachungsangelegenheiten zuständig? War er mittlerweile eine graue Eminenz? Während Hans antwortete, hörte Ido konzentriert zu, wog die Antworten ab und kam schließlich zu dem Schluss, dass er die richtige Person vor sich sitzen hatte.
„Hans, du bist der Einzige beim schwedischen Nachrichtendienst, den ich kenne, und du scheinst ein guter Typ zu sein. Ich habe, sagen wir, ein kleines bisschen recherchiert, bevor ich dich angerufen habe. Du hast einen beeindruckenden Lebenslauf. Daran gibt es wirklich nichts auszusetzen. I couldn’t find any noise in your profile! “, ergänzte er nachdrücklich. „Ich suche einen Schweden, der etwas von seinem Geschäft versteht, der sich nichts anmerken lässt und der liefern kann, wenn es darauf ankommt. Ich bin vollends überzeugt, dass du der Richtige bist.“
Ido genehmigte sich einen Schluck Bier und fuhr dann mit seinem einstudierten Monolog fort.
„Was ich dir jetzt erzähle, ist vielleicht keine große Neuigkeit, was weiß ich schon? Wie gesagt, du bist der Einzige beim schwedischen Nachrichtendienst, den ich kenne, und es liegt ganz bei dir, was du mit meinen Informationen anstellen willst. Vielleicht findet die Geschichte, die ich dir gleich erzähle, schon hier und jetzt ein Ende. Wir haben jedenfalls nicht vor, irgendetwas in dieser Hinsicht zu unternehmen. Wie du vielleicht weißt, haben wir ein Netzwerk aus freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – wir nennen sie Sayanim. Sayan ist das hebräische Wort für Assistent . Sayanim ist die Pluralform. Sie werden nicht bezahlt, aber im Gegenzug setzen wir sie keinem direkten Risiko aus. In der Regel. Sie versorgen uns mit Informationen zu ganz unterschiedlichen Angelegenheiten und beteiligen sich an kleineren Aufträgen. Das kann bedeuten, dass sie jemandem einen Leihwagen besorgen, ohne dass derjenige irgendwelche Unterlagen ausfüllen muss. Oder dass eine Reinigungskraft im Hotel die Sachen eines bestimmten Gasts nach Hinweisen durchsucht. Was auch immer, diese Mitarbeiter sind unser verlängerter Arm, unsere Hand draußen in der Welt. Sie vertreten unsere Werte.“
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