„Wie ich sagte, Feldbin. Eine Sayanim. Eine Putzfrau. Hört sich nach Informationen zu einer bestimmten Situation um. Die Abteilung in Moskau weiß Bescheid.“
„Willst du etwas Bestimmtes wissen?“
„Nur, ob kürzlich irgendetwas gemeldet wurde. Ruf an, peil die Lage und gibt mir dann Bescheid. So schnell du kannst.“
Ido nahm sein Sakko, das er über eine Stuhllehne gehängt hatte, warf es sich über die Schulter und fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter ins Erdgeschoss, um noch eine Runde durch das Stadtviertel zu spazieren. Er brauchte dringend einen Kaffee und etwas Süßes, wenn er die übrigen Stunden bis zum Feierabend noch durchhalten sollte. Und er wollte noch weiter darüber nachdenken, was das historische Geiseldrama in Moskau bedeutete – Stalin gegen Chiang Kaishek – und ob es irgendetwas damit zu tun hatte, was die Sayanim seit einiger Zeit berichtete. Zunächst würde er einen einfachen Zeitstrahl erstellen und die verschiedenen Ereignisse in der richtigen Reihenfolge darauf anordnen. Dann musste er, nicht zum ersten Mal, mit jemandem sprechen, der Erfahrung mit dem KGB hatte. Damals wie heute. Und dann war da noch diese andere Frau in Moskau, wie auch immer die noch einmal hieß. Mit ihr musste er ebenfalls Kontakt aufnehmen.
5. Februar 2012
Die beiden Streifenpolizisten hatten ihren Wagen an der Kaimauer geparkt. Sie waren nicht besonders unglücklich darüber, die tote Frau gefunden zu haben. Sie war aus der Tiefe des Flusses aufgetaucht und an die Treppenstufen gespült worden. Ein verantwortungsbewusster Bürger hatte die Polizei informiert. Die beiden eingetroffenen Beamten waren nicht erpicht darauf, nasse Füße zu bekommen, also riefen sie ihrerseits nach Verstärkung mit entsprechender Ausrüstung und zogen sie mit einem Haken heran.
„Verdammt! Verfluchte Moskwa …“, murmelte einer der beiden. Der andere lächelte. Immerhin passierte überhaupt einmal etwas und sorgte für etwas Abwechslung. Ein bisschen Action. Sie zogen den leblosen Körper an Land und ließen ihn eine Weile liegen, während sie verschnauften und Verstärkung riefen. Das hier war auf jeden Fall eine wenig glamouröse Art abzutreten. Schließlich näherte sich der einem Krankenwagen ähnelnde Leichenwagen, und sie verfrachteten die Tote in den hinteren Teil, damit diese quer durch Moskau zum Leichenschauhaus gebracht werden konnte. Dort würde man versuchen, sie zu identifizieren, was – da waren sich alle Beteiligten einig – vermutlich zwecklos war. Die beiden Polizisten gönnten sich eine ausgiebige Mittagspause mit einem Extraschluck Wodka.
„Also“, sagte der eine. „Ich habe mich immer schon gefragt, warum Leichen wieder an die Wasseroberfläche treiben. Ich meine, zum Teufel, die gehen doch erst direkt unter. Was passiert dann?“
Sein Kollege, der die Antwort zufällig wusste, lächelte überlegen und begann, ihm einen Vortrag zu halten.
„Weißt du das wirklich nicht? Hast du auf der Polizeischule nur gepennt? Die Leiche sinkt erst einmal nach unten, wenn sich die Lungen mit Wasser füllen. Aber irgendwann bilden sich Gase im Körper, dadurch wird er leichter als Wasser und wird nach oben getrieben. Hast du wenigstens eine Ahnung, warum das Gesicht dabei immer nach unten zeigt?“
„Absolut keine Ahnung. Sag schon!“
Der Kollege biss ein Stück von einer Pirogge ab.
„Das hat eigentlich nichts mit dem Gesicht zu tun, sondern mit den Gliedmaßen. Sowohl die Arme als auch die Beine knicken nach vorn ab beziehungsweise nach unten. So funktionieren die Gelenke eben. Deshalb zeigt der Oberkörper immer nach unten.“
„Wie bei der Frau, die wir gerade gefunden haben?“
„Wie bei der Frau, die wir gerade gefunden haben! Du lernst schnell. Prost!“
Gläser klirrten, und die Mittagspause wurde fortgesetzt. Wenn man bedachte, wie viele Menschen in Moskau regelmäßig verschwanden und wie lausig die Nachverfolgung dieser Fälle ablief, war es äußerst unwahrscheinlich, dass die Leiche einen Namen bekommen und mit einem Menschenschicksal in Verbindung gebracht werden würde. Die Leiche konnte sonst wo ins Wasser geworfen worden sein. Vielleicht war sie schon längere Zeit und eine weite Strecke getrieben. Oder gar nicht. Durch den ungewöhnlich milden Winter hatte sich das Eis nur spärlich und langsam gebildet.
Aber wie durch einen Zufall passte die Leiche genau zur Beschreibung einer erst neulich verschwundenen Frau, und über die israelische Botschaft wurde diejenige Person, welche die andere Frau als vermisst gemeldet hatte, offiziell in Kenntnis gesetzt. Sie war, ebenso wie die Tote, als Reinigungskraft tätig und ging direkt ans Telefon – so, als hätte sie schon angespannt auf den Anruf gewartet. Sie hatte seit Langem nichts mehr von ihrer Freundin gehört.
„Ida Feinberg. Mit wem spreche ich?“
„Hier spricht die Polizei. Es geht um eine mögliche Identifizierung.“
„Lena?“
„Sie haben eine gewisse Lena Feldbin als vermisst gemeldet. Haben Sie die Möglichkeit, ins Leichenschauhaus zu kommen, um die Tote zu identifizieren?“
„Um Gottes willen! Ist sie es denn?“
„Bitte seien Sie so freundlich und kommen Sie zur Identifizierung …“
Ein paar Tage später wurde die als Lena Feldbin identifizierte Leiche eingeäschert. Als Todesursache war ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand festgestellt worden. Sie war bereits tot gewesen, als man sie ins Wasser geworfen hatte. Außer ihrer Freundin Ida hatte Feldbin niemanden – keine Verwandten, weder Kinder noch Eltern oder Geschwister. Die meiste Zeit hatte sie als Reinigungskraft gearbeitet. Die Polizei machte deutlich, dass keine weiteren Ressourcen für diesen Fall aufgebracht werden würden. Eine unspektakuläre Mitbürgerin, die einen unspektakulären Tod gestorben war. Die israelische Botschaft versuchte gar nicht erst zu widersprechen. Hier war jegliche Mühe umsonst.
Die Mitteilung über ihren Tod fand jedoch den Weg in einen der routinemäßigen Berichte der Botschaft, der wiederum an einen Botschaftsangestellten weitergeleitet wurde. Dieser hatte zufälligerweise gerade eine Anfrage aus Jerusalem bezüglich der betreffenden Person, Lena Feldbin, erhalten, und konnte daher umgehend weitergeben, dass sie tot war, vermutlich ermordet, und dass die Moskauer Polizei kein Interesse daran zeigte, weitere Nachforschungen anzustellen oder umfangreiche Ermittlungen einzuleiten. Für sie war der Fall bereits abgeschlossen.
Als Ido Zakai vom Mossad in Jerusalem ein paar Tage später die Nachricht erreichte, blieb er im Gang vor seinem Büro stehen und schaute aus dem Fenster hinaus auf die in der Mittagssonne leuchtenden Gebäude der Stadt. Aber da war noch etwas anderes. Er erkannte ein Muster. Ido machte auf dem Absatz kehrt, ging zurück in sein Büro und wühlte sich durch all die alten Visitenkarten, die er in einer Schublade aufbewahrte. Es war an der Zeit, den Schweden zu kontaktieren. Auf dieses Zeichen hatte er gewartet.
7. Februar 2012
Hans Edelman saß auf einer Holzbank im Umkleideraum. Er hörte, wie sein Kollege, offenbar zufrieden mit sich selbst und dem Ausgang des Spiels, unter der Dusche eine Melodie vor sich hin summte, mit gutem Grund. Der kleine Raum stank nach Schweiß, Schmerzsalbe und Niederlage, und Hans wiederum war alles andere als zufrieden mit sich selbst und dem Ausgang der Partie – haushoch war er besiegt worden. Sein Squashschläger lag neben ihm auf der Bank, Hans’ Kollege tauchte in der Tür zum Duschraum auf.
„Verdammt cool hier. Eine schöne Squashhalle!“
„Ja, oder?“, murmelte Hans und begann, sich auszuziehen. Er selbst hatte auf dieses Match bestanden, nachdem er in aller Heimlichkeit Privatstunden im Squash genommen hatte. Er hatte sich dazu bereit gefühlt, aufs Feld zu gehen, gegen einen jüngeren Kollegen anzutreten und ihn zu überrumpeln. Ihm zu beweisen, dass er noch mithalten konnte. Und dann? Dann war er in der Luft zerrissen worden. Der Lächerlichkeit preisgegeben. Er hatte nicht im Mindesten mithalten können, und es musste äußerst komisch ausgesehen haben, wie er hinter dem Ball hergehechelt war – ohne eine ernsthafte Chance, mehr als einen gelegentlichen Glückstreffer zu erzielen. Hans versuchte, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln, ahnte aber, dass er daran noch eine Weile zu knabbern haben würde.
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