Über dieses Buch
Ende der Sechzigerjahre, die Icherzählerin, eine junge Lehrerin aus dem Tessin, hat die Aufgabe, die Kinder italienischer Arbeitsmigranten zu betreuen. Naturgemäß bewegt sie sich zwischen zwei Sprachen und Welten, zwischen Deutsch und Italienisch, zwischen dem Tessin, der Lombardei und Aarau.
Sie ist selbst etwas fremd und befremdet in der deutschen Schweiz, und so schreibt sie auch von sich, wenn sie von der Situation der Fremden in der Schweiz erzählt, von der Schwierigkeit, die neuen Sitten und Gebräuche, das ganze Gehabe im kalten Norden zu verstehen.
Das Buch, das sich noch heute frisch und aktuell liest, erschien 1970 zuerst in der deutschen Übersetzung. Erst zwei Jahre später wurde es im italienischen Original veröffentlicht mit dem Titel «Tra dove piove e non piove»: zwischen da, wo es regnet, und dort, wo es nicht regnet.
Obwohl Anna Felder mit ihren einfühlsamen Annäherungen an die Lebenswelt der Migranten durchaus in die damalige politische Debatte eingriff, war das Werk nicht als Pamphlet angelegt, vielmehr beobachtet die Erzählerin die Kinder und ihre Eltern als eine Art Komplizin und mit warmer Empathie.
Foto Ladina Bischof
Anna Felder, geboren 1937 in Lugano, Literaturstudium in Zürich und Paris, Promotion über Eugenio Montale, danach Tätigkeit als Italienischlehrerin und Schriftstellerin. Lebt in Aarau und Lugano. 1998 Schillerpreis für das Gesamtwerk, 2004 Aargauer Literaturpreis und 2018 Schweizer Grand Prix Literatur. Im Limmat Verlag sind lieferbar «No grazie» und «Die Adelaiden / Le Adelaidi».
Der Übersetzer Federico Hindermann (1921–2012), geboren in Biella (Piemont), verbrachte seine Kindheit in Turin, seine Jugend in Basel, unterrichtete Deutsch in Oxford und Romanische Philologie in Erlangen. Er arbeitete als Übersetzer und Herausgeber und von 1971–1987 als Leiter des Manesse Verlags. Im Limmat Verlag ist der zweisprachige Gedichtband «Fügsam dagegen / Docile contro» lieferbar.
Anna Felder
Quasi Heimweh
Roman
Aus dem Italienischen von Federico Hindermann
Nachwort von Alice Vollenweider
Limmat Verlag
Zürich
Nur selten kam es vor, dass meine Schüler mich nicht an den Zug begleiteten. In einzelnen Städtchen, in Brugg zum Beispiel, war es recht weit vom neuen Schulgebäude zum Bahnhof: Meine Kinder mussten den Weg nach Hause noch einmal, vielleicht im Dunkeln zurücklegen, denn die Italienerfamilien wohnten fast alle jenseits der Schule in den neuen Blöcken, voll wie Ameisenhaufen auf freiem Feld, oder in den Holzbaracken in den Außenquartieren.
Das war zur Gewohnheit geworden, dieser Abendspaziergang, und ich wusste, dass ich meine Verehrer enttäuschte, wenn ich ihnen sagte, sie sollten nicht mitkommen, es sei kalt, ich müsse noch etwas einkaufen, oder es warte jemand auf mich: Sie zogen den Revolver hervor und machten peng peng.
Als ich in Italien unterrichtete, war es anders: Dort gab es, in der Stadt, das Ritual der Mütter und der Dienstmädchen: alle hinter dem Gitter, wartend und schwatzend, mit einem Brötchen in der Hand, dem Mantel, der schriftlichen Entschuldigung, manchmal stand auch der Chauffeur dabei. Aber dann stieg ich in die Straßenbahn, oder Fabio war da, der auf mich wartete, und ich setzte ein anderes Gesicht auf. Fabio hatte nie unterrichtet, er wusste nicht, was es heißt, den ganzen Tag mit vierzig Kindern verbringen: Er hätte nichts begriffen, wenn ich ihm erzählt hätte, dass ich manchmal ungern das Klassenzimmer betrat, missmutig schon am frühen Morgen, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen, und dass ich dann nach wenigen Minuten merkte, dass ich beim Unterrichten so frisch und klar redete, wie ich nur konnte, weil sie mich alle mit vor Aufmerksamkeit glänzenden Augen anstarrten und mit zusammengekniffenen Lippen; er hätte gedacht, ich spräche eine andere Sprache, hätte ich ihm gestanden, dass es meine Kinder waren, die mich Tag für Tag in den Bann ihres Zaubers zogen: dass ich dann schön wurde für sie und redete, in Zorn geriet, in die Falle ging, die ihre Fragen, ihre aufgestreckten Hände stellten. Fabio musste wohl den Eindruck haben, ich unterrichte nur so zum Zeitvertreib, ohne mir dabei den Kopf und die Fingernägel zu zerbrechen. Ihm von den Aufgaben, von irgendwelchen Spielen unter Schülern erzählen, musste für ihn so sein, als lese man ihm aufs Geratewohl die Nachrichten aus dem «Corriere» vor: Er wendet das Fleisch im Mehl (denn er briet es immer selbst, mit den raffiniertesten Saucen), und ich blättere mit lauter Stimme in dem, was ich gerade auf dem Tisch finde. Für ihn war ich immer die Gleiche, mit diesem andern Gesicht: Wenn er mich von der Schule abholte, stellte er keine Fragen, er war nicht gespannt, was wir uns hätten sagen können; manchmal begleitete er mich morgens im Auto wieder zur Schule.
Ich erinnere mich gut an den Nebel, so in der Früh, der uns wie der Schlaf noch umhüllte, und an die gelben triefenden Augen der Autos; es war nicht weit bis zur Schule, aber zu dieser Zeit fuhr man wegen des Verkehrs und des Nebels fast stehend sehr lang in der Kolonne. Reden war dann nicht nötig: Ich brauchte nur sein Gesicht zu beobachten, wie es sich zu einem Knoten verschloss um die Lippen, die sich vorschoben, schwer, ein reglos starres Wort zu fassen; ich brauchte nur seine am Steuerrad ruhenden, eine Gebärde, einen Gedanken nachzeichnenden Hände wiederzuerkennen, die dann aufzuckten mit flinken Griffen bei den Verkehrszeichen; bevor wir uns trennten, grüßten wir uns kaum mit den Blicken, beide darauf bedacht, das Schweigen nicht zu brechen.
Auch ich hatte ein Zimmer mit Küche in der Stadt, alles viel kleiner als bei Fabio. Ich arbeitete gern auf meinem Zimmer, weil ein riesiger Tisch darin stand, ein Zeichentisch vor dem Fenster: Es war das großzügigste Möbelstück in dem Kämmerchen, und ich saß daran und korrigierte und bereitete meine Stunden vor. Seit damals, glaube ich, seit jener ersten Zeit, als ich nicht mehr bei meiner Mutter wohnte, hatte ich gemerkt, dass ich an zu Hause dachte, ich sah es eigentlich zum ersten Mal so von außen, das Haus mit den Zimmern, in denen es wegen der Bäume im Garten immer ein wenig dunkelte; und ich sah den Garten, kannte ihn auswendig, die entlegensten Dinge kamen mir in den Sinn, jene Haufen von dürrem Laub, die meine Mutter auf dem hinteren Beet schichtete, bevor man davon den letzten Streifen abschnitt, um die Straße zu verbreitern: Als Kind warf ich mich rücklings aufs Laub, im Mantel und in allem, weil es schon bald Winter wurde, und durch das wilde Geknister der toten Blätter spürte ich, wie die Feuchtigkeit des Bodens unter die Haut drang.
Meine Mutter rief oft an, und ich richtete es so ein, dass sie mich zu Hause fand, dass sie sich keine Sorgen machte. Von Fabio wusste sie nichts. Ich besuchte sie übers Wochenende: Sie hielt die Gläser mit meiner Lieblingskonfitüre bereit, zuckersüße Feigen, stellte mir von den kleinen Röschen aus dem Garten ins Zimmer, die den ganzen Winter blühten; sie kochte mir Kalbshaxen und Leberschnitten mit Marsala; sie ließ mich das Haus und den Garten so unversehrt wiederfinden wie damals, als mein Bruder Gianni und ich noch Kinder waren. Aber sie redete jetzt mit mir wie mit einer Erwachsenen, einem Mädchen, das sich sein Leben selber verdient: Sie war tapfer, war ein wenig stolz, dass sie uns hatte fortziehen lassen, unsere eigenen Wege, ohne uns ihre Einsamkeit zu spüren zu geben. Und jetzt, an den beiden Tagen, die wir zusammen verbrachten, lasen wir wieder Giannis Briefe aus der Schweiz: Meine Mutter war in großer Angst, Gianni könnte, launisch, wie er war, Dummheiten anstellen, sich in ein Schweizer Mädchen verlieben: «Wenn er mir nur nicht so eine verrückte Bohnenstange ins Haus bringt»; denn die Schweizerinnen waren für sie hochaufgeschossene, hagere Mädchen in Hosen, gar nichts Rechtes.
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