Ich zum Beispiel musste im ersten Semester am Montag und am Donnerstag von halb acht bis halb zwölf, 1. und 2. Kurs, in Zurzach sein und am Nachmittag dann bis halb sechs in Seon, was wegen der Anschlüsse eine Fahrt von zwei Stunden bedeutete. Meine Mahlzeit war ein Schinkenbrot unterwegs, dazu aß ich drei Reihen Blockschokolade, an der ich mir fast die Zähne ausbiss.
An den anderen Tagen pendelte ich von Brugg nach Küngoldingen, weiter nach Döttingen: Mein Kalender war ein Karussell von Dörfern und kleinen Industriestädten, die mich in einem Glasgebäude empfingen, an das der Architekt soeben noch die letzte Hand angelegt hatte, sauber wie ein Kühlschrank und mit den Lautsprechern und dem Gong fürs Pausenzeichen, Schulhäuser, die die Kinder nur in Pantoffeln betraten; oder in einem dunklen Kellergeschoss, wo ständig die Glühbirnen fieberten, wo die Heizkörper mehr zur Dekoration dienten und wir durch die schmalen Oberlichter nach und nach gelernt hatten, Frau Doktor und all die Leute, die über den Hof daherkamen, an ihren Schuhen zu erkennen. Die Knaben hatten eine besondere Vorliebe für diese verwitterten Räume, in denen meistens vielerlei Sägen, Hobel und Hämmer herumlagen, die ihnen bis in die feinste Schraube vertraut waren: die Zimmer für den Werkunterricht; «Handarbeit» stand an der Tür, und mir schien es jedes Mal, auch wenn die Werkzeuge nicht die gleichen waren, ich käme wieder in Fabios Labor.
Fabio, über sein Werkzeug gebeugt, mit den vorstehenden, zu einem Knoten verschlossenen Lippen, die mir gefielen, in seinem weißen Arbeitskittel, wenn er das Fleisch briet, in Gedanken versunken, eigensinnig, unnachgiebig, ganz in seine Arbeit vertieft, auf die ich eifersüchtiger war als auf alles sonst – und ich konnte nicht davon ablassen, ihn zu quälen und mich dazu, ich wusste, dass ich ihn deswegen liebte, weil er so hartnäckig war, so ganz aus einem Stück und ganz sich selbst wie ein starrköpfiges Kind mit dem Hammer in der Hand.
Ich wollte den Zauberbann brechen, dass er etwas sage, dass er endlich rede; auch ich wollte Bescheid wissen; und zu Hause noch fragte ich ihn ganz krank vor Neugierde aus; aber es war, als ob man sich mit bösartigen Pinzetten in seinen schönen Kopf hineinzwängte: Ich tat ihm weh dabei, und doch konnte er es mir nicht sagen, er schaute mich an, strich mir übers Haar, begriff nicht, warum ich weinte, hatte mich gern.
Jetzt, wenn mir die Tränen kamen in der Werkstatt der Handarbeit, jetzt war es, weil ich ihn so fern wusste, Fabio, weit weg auch in der Zeit, auch in Gedanken weit von diesem Ort am Rheinufer, der einen leichten Anstrich mondänen Lebens hatte: Das mochte von der Grenze herrühren, in der Mitte des Flusses, von den Thermalbädern mit den fremden Kurgästen; wie fern stand ihm das alles, Fabio, das Grab der heiligen Verena, die da lächelt mit dem viereckigen Kamm in der einen Hand und in der andern das Krüglein, unten in der Gruft der Stiftskirche, und die Votivkränze der jungfräulichen Bräute; die kleinen Kaufläden mit den beschlagenen Doppelfenstern, die Plätze mit der Bank rund um den Stamm des Lindenbaums, die komplizierten deutschen Inschriften, «Metzgerei Schmidli, Lindenhofplatz», die er nicht einmal hätte entziffern können.
Für mich dagegen gab es das jetzt und war so echt wie die auf seinem Tisch gerade ausgerichteten Bleistifte und Taschenmesser, wie jeder Winkel in seinem Zimmer mit dem Plattenspieler, der Griechenlandkarte und dem Amaro Giuliani, das Zimmer, das ich durch die abgeteilten Fensterscheiben im Nu ganz klar vor mir erblickte: Dies machte mir plötzlich Angst, dass ich so in ein Luftloch stieß, mitten unter den in zwei Sprachen lärmenden Kindern, dies, dass ich mich fragte, wo sie denn hinfließt, die Zeit.
Es war nicht immer leicht, sich in der Schule zu verständigen: Die Kinder redeten oft, auch unter sich, schweizerdeutsch und fanden dann mit mir den italienischen Ausdruck nicht. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Brugg: Es war in einer Pause, als die Schüler wild im Hof herumtollten: Auch die Schweizer tobten, während ich mir doch immer vorgestellt hatte, die Kinder aus dem Norden seien stille, gesetzte, brillentragende kleine Erwachsene, wie ich sie im Hotel in Riccione als Feriengäste im Gedächtnis hatte. Die Lehrer kümmerten sich überhaupt nicht um sie, ließen sie gewähren (da hätten wir also ihren Freiheitskult, die Achtung vor dem Individuum) und spazierten unter dem Vordach in Mönchssandalen auf und ab wie Kinder in der Krippe auf dem Dreirad, wenn es regnet, in Gesellschaft einiger Frauen mit weißen Zoccoli und mit gekreuzten Armen, die als Büstenhalter dienten: Es waren die Kolleginnen, wie sie mir nachher sagten, die Lehrerinnen, lauter Fräulein mit dem Namen auf dem Türschild. Ich musste über den Hof gehen und sah mich vorsichtig um in meiner Angst, die Kinder könnten mich bei ihren heftigen Spielen über den Haufen rennen; ich war stehen geblieben, so gut und wo ich konnte, und schaute dem bunten Schwarm von Buben und Mädchen zu (hier trugen sie nicht wie bei uns die schwarzen oder weißen Ärmelschürzen mit der Schleife um den Hals, sie waren ganz wie zu Hause gekleidet); ich zählte sie, wie wenn ich eine Margerite abzupfte: der ja, der nein, diese nein, diese ja; nein, nein, nein, ja: Vor allem die kleinen Italienermädchen waren leicht zu erkennen, fast immer die dunkelsten (oder waren es Spanierinnen?), mit der Haut aus einer andern Substanz, viel aufgelöstem Haar und darin dann immer etwas aufgesteckt, ein Band, ein Schmetterling aus Plastik, und mit goldenen Ohrringen, alles schon kleine Bräute; wenn man sie aber reden hörte, waren es alles Mädchen aus Brugg, die munter mit- und nachplapperten, genau wie die anderen, und die nicht einmal imstande waren, mir im ersten Augenblick auf Italienisch zu sagen, wo mein Schulzimmer war.
Küngoldingen, den 20. Oktober
Vierzehn Schüler, von der 1. bis zur 4. Klasse
Antonella Annunziata aus Pompeji bringt mir das Rezept für die Pizza bei, einen ganz besonderen Trick. Sie möchte in ein Internat, «a chiudersi», sagt sie, sich einschließen, wie ihr Bruder in Brescia und ihre Schwester in Nola: «Wenn ich den Verstand dazu habe, lerne ich dort auch Französisch. Die Briefe nach Italien schreibe ich, wenn man berichten muss, wie es uns geht; wenn es interessante Dinge sind, schreibt die Mutter oder der Vater. Ich muss jeden Abend den Haushalt machen: die Teppiche klopfen, darauf ist die Mutter wie wild: Wir haben einen Fußboden aus Plastik, wozu denn so viele Teppiche? Ich muss im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen.»
Zuhinterst im Schulzimmer stehen die Kisten für die Musikinstrumente: Hier übt wohl eine Küngoldinger Kapelle; «La Paloma», heißt es in großen Lettern auf einer Kiste. Draußen senkt sich ein rotes bemoostes Dach schräg gegen die ganze Fensteröffnung.
Das kleinste Mädchen, das noch gar nicht zur Schule kommen müsste, Donatas Schwester, gleicht einem Zigeunerkind mit ganz langen schwarzen Haaren und einer schwammigen Nase. Auch ein Vamp ist dabei, mit nackten Hühnerbeinchen.
Die Schulinspektorin ist gekommen, eine blonde Hexe.
Rico ist der Schönste, winzig, aus der Vierten, flink und hell, aber er will barfuß bleiben.
Sergio stellt sich auf einen Schemel, um die Wandtafel zu putzen.
Die schwierigen Wörter mit -gl-: «Amaglia».
Das Diktat über das Wasser. Grammatikalische Grundbegriffe.
Der Mantel der Hexe hängt über dem meinen.
Ich weiß noch nicht alle Namen.
Sie haben saubere Fingernägel.
Seon, den 31. Oktober
Neun Kinder, von der 1. bis zur 3. Klasse
Die an die Wandtafel gezeichneten Kleidungsstücke: die Hosen, der Pullover, die Stiefel, die Socken, die Mütze, die Schärpe, die Jacke.
Die Kinder schreiben das Wort daneben und tragen es dann ins Heft ein. Auch hier steigen sie auf den Schemel, um an die Wandtafel zu schreiben.
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