«Herbert, du bist ein Träumer», sagte Tanja leise. «Ich mag das an dir.» Sie legte ihre Hand auf seine. «Aber ich habe eine Stelle und kann nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden.»
«Die Stelle kannst du aufgeben. Wir haben jetzt genug Geld.»
«Du hast genug Geld», berichtigte sie.
«Es ist für uns», erklärte Matter. «Ich habe bereits ein Vollmachtsformular angefordert, damit du auch darüber verfügen kannst.»
«Und du? Deine Familie, deine Stelle?»
Matter fasste Tanjas Hand. «Ich hoffe, du wirst meine Familie. Von Sylvia trenne ich mich, das habe ich dir bereits gesagt. Und meine Stelle kündige ich zur Jahresmitte. Mit meinen Ferien und Überzeitguthaben kann ich vor Ende Mai aufhören im Amt.»
«Was machen deine Opfer, wenn du einfach von der Bildfläche verschwindest?»
«Sie werden mich verfluchen, was sonst.» Matter lachte sein lautes Lachen, und die Gäste am Nachbartisch drehten sich um.
«War das ein Antrag vorhin?», fragte Tanja. «Habe ich richtig gehört?»
«Ja, natürlich», erwiderte Matter. Er fühlte sich unbequem. Gespräche über Liebe und Zuneigung erschreckten ihn; man konnte falsch verstanden oder gar zurückgewiesen werden. Mit Sylvia redete er schon seit Jahren nicht mehr über solche Dinge.
Jetzt brachte der Kellner das Hauptgericht und goss Wein nach. So verschob sich das delikate Thema wie von selbst auf einen späteren Zeitpunkt. Das Fleisch war innen zartrosa, ganz wie es sein sollte.
«Vortrefflich», sagte Matter.
«Allerdings», erwiderte Tanja.
Später beim Nachtisch, als der Wein fast ausgetrunken war, sagte Tanja: «Ich weiß nicht, ob ich einfach so mit dir nach Neuseeland verschwinden kann. Seit meiner Scheidung vor drei Jahren bin ich unabhängig und auf mich gestellt. Das ist manchmal schwierig, hat aber auch Vorteile. Die paar Bekannten, die ich habe, leben in oder bei Basel; ich möchte sie eigentlich nicht verlieren. Und was ist, wenn du eines Tages genug hast von mir?»
«Oder du von mir?», fragte Matter zurück.
Darauf ging Tanja nicht ein. Aber sie fragte: «Warum willst du eigentlich ausgerechnet nach Neuseeland? Nur wegen der Alpakas?»
«Nein!», rief Matter, wieder ein wenig zu laut. «Ich habe genug! Genug von Basel, von Sylvia, vom Fischmarkt, von allem. Das führt doch alles nirgends hin. Immer dieselben Tage, dieselben Gesichter, dieselben Sprüche der Kollegen. Zu Hause wird auch alles immer enger. Sylvia und ihr Haushalt! Arnold braucht neue Hosen. Der Geschirrspüler muss repariert werden. Rita hat angerufen, sie probiert eine neue Diät aus. Die Fahrräder dürfen nicht mehr im Treppenhaus abgestellt werden. Und so weiter, und so weiter! Ich brauche einen totalen Tapetenwechsel, ein neues Leben. Alpakas sind faszinierende Tiere. Pflegeleicht, freundlich. Und Neuseeland ist sauber und zivilisiert, bietet alles, was man braucht.»
«Und deine Freunde?», fragte Tanja. «Willst du die einfach so aufgeben?»
Matter zögerte. «Ich weiß nicht, ob ich Freunde habe. Eher Kollegen. Man kann schreiben …»
«Und dein Sohn?»
«Arnold? Der macht sich nichts aus seinem Vater. Und die Mutter verwöhnt ihn wegen einer kleinen Behinderung. Er wird mich nicht vermissen.»
«Wirst nicht du ihn vermissen?»
«Ich weiß es nicht.»
Tanja schüttelte den Kopf. «Mir scheint, du willst flüchten. Vor deinem bisherigen Leben, vor deiner Familie, vor dir selber. Aber dich hast du immer und überall dabei.»
Herbert Matter lachte wieder. Der kritische Unterton in Tanjas Bemerkung entging ihm. Er sagte: «Wenn du dabei bist, macht es mir nichts aus.»
Am Sonntagabend holte ihn Sylvia am Flugplatz ab. Er hatte Tanja gebeten, vor ihm durch die Passkontrolle zu gehen, und versprochen, sie am Montagabend anzurufen. Sylvia entdeckte ihn sofort, als er durch die Milchglastür trat. Sie umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund.
«Du hast eine neue Krawatte», stellte sie fest, während sie zum Ausgang schritten.
«Ja.»
«Gefällt mir. Passt gut zu deinem Hemd.»
Später entdeckte Sylvia den roten Priority-Kleber am Koffergriff. «Bist du Business Class geflogen?», fragte sie ungläubig.
Er folgte ihrem Blick zum Koffer. «Ah, das», meinte er. «Man hat mir ein Upgrade gegeben in London, weißt du.»
«Da ist es dir aber gut ergangen!»
«Die Sitzanordnung ist gleich wie hinten. Nur das Essen ist besser.»
«Hm.» Sylvia zögerte. «Du warst offenbar viel unterwegs. Ich habe dreimal versucht, dich anzurufen. Und das Handy war ausgeschaltet. Du hättest mich einmal anrufen können.»
Matter widersprach. «Die Batterie war am Ende, und ich habe das Ladegerät zu Hause vergessen. Wir waren unser sechs gestern Abend. Nach Mitternacht wollte ich dich nicht wecken, verstehst du.»
Während sie zum Parkplatz schritten, überlegte er krampfhaft, wie er Sylvia seinen Entschluss möglichst schonend beibringen konnte.
Am Montagmorgen bat ihn sein Chef zu einer kurzen Besprechung. Das Büro des Abteilungsleiters war geräumig; an der Wand gegenüber dem Fenster hing eine Lithografie von Niklaus Stöcklin, und in der Ecke machte sich ein Gummibaum mit dunkelgrün glänzenden Blättern breit. Sie setzten sich an den großen Besprechungstisch. Matter war bedrückt; für heute Abend hatte er das Gespräch mit Sylvia geplant. Nägeli, zweiundfünfzig, strahlte Kraft und Energie aus. Man sah ihm den ehemaligen Spitzenhandballer an. Unter seinem silbergrauen Bürstenhaarschnitt funkelten wache, braune Augen; jetzt gerade waren sie prüfend auf Herbert Matter gerichtet.
«Wie war London?», erkundigte er sich freundlich.
«Tolle Stadt», brummte Matter. «Die Abdankung fand in einer alten Basilika statt, gut zweihundert Leute. Viele Kollegen, die ich seit der Jugend nicht mehr gesehen habe.»
«Ja, so geht das, wenn man älter wird. Man trifft sich immer häufiger bei Beerdigungen. – Aber jetzt zur Sache», sagte Nägeli. «Ich habe am Freitag ein paar Akten überprüft. Da sind Fragen aufgetaucht, die du sicher beantworten kannst.»
Matter runzelte die Stirn. «Ja?»
Konrad Nägeli zählte die drei Dossiers auf, erkundigte sich nach dem Vermerk über Vaduz und dem Brief der Ehefrau Huber, fragte ungläubig, ob Herbert denn bei Regenass nicht die Verbrauchsrechnung überprüft habe. Matter schloss die Augen wie um nachzudenken. Milde Panik breitete sich in ihm aus. Dann lehnte er sich zurück.
«Alles der Reihe nach», begann er. «Natürlich ist mir die wundersame Vermehrung des Vermögens von Herrn Regenass aufgefallen. Er bekommt eine amtliche Veranlagung, die sich sehr von seiner eigenen Steuererklärung unterscheiden wird.»
«Dann ist ja gut», sagte Nägeli.
«Nun Kellenberger. Ich prüfe noch, ob er von einer Liechtensteiner Gesellschaft Honorare bezogen hat, die er uns nicht deklariert hat. Aber ein Schreiben von Frau Huber habe ich nicht in den Akten.»
«Warum ist es denn im Verzeichnis vermerkt?»
Matter zuckte die Achseln. «Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es noch bei einem anderen Sachbearbeiter. Immobilien vielleicht.»
Sein Chef machte eine Pause. Mit den Fingern trommelte er auf das Tischblatt. Endlich sagte er: «Warum hast du denn alle drei Dossiers als genehmigt abgehakt, Herbert? Das geht doch nicht auf!»
«Reine Routine, glaube ich», erklärte Matter lahm. Er fühlte, wie ihm in den Achselhöhlen Schweiß ausbrach. «Es war an einem Abend nach Arbeitsschluss, als ich die drei Fälle bearbeitete. Ich hatte viel um die Ohren. Ich muss die Akten abgehakt haben, ohne zu denken. Tut mir leid.»
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