Dass sie betet, den Annehmlichkeiten abhold, die ich ihr bieten könnte, erkennt man an dem starren Blick; an den gefalteten Händen, am Zittern der Lippen. Wir vom Zug würden alles tun, damit ihr Köfferchen aufrecht zu ihren Füssen stehen bleibt, damit Handtasche und Schirm ihr nicht von den Knien rutschen. Ich persönlich würde gern zu ihr sagen Amen, Amen, und weiter geht’s. Allen von der Reise und der Unerbittlichkeit der Reise schwer geprüften Damen, allen verloren in der Riesengrösse des Zugs sitzenden Damen sage ich mein riesengrosses Amen; ihnen zuallererst: so häuslich fürs Jenseits eingerichtet, mit gezücktem Billett.
Der Habitué dagegen, und solche gibt es in jedem Wagen, zeigt, dass er keine Minute seiner Anwesenheit, seiner Reise, seiner Chance verpassen will. Alles nutzt er: belegt zwei Plätze, am liebsten oben, für sich und für die Zeitungen; wirft durchs ganze Abteil prüfende Blicke auf die Blätter der Mitreisenden, um sie sich anzueignen, sobald jemand aufsteht; sofort liebäugelt er mit dem Sitz gegenüber, den er einnehmen wird, falls gelegentlich die Richtung wechselt, in Luzern zum Beispiel. Und vor allem sichert sich der Habitué auf seinem Beobachtungsposten die schöne Aussicht: nein, nicht auf die Weiden, die Wälder, das Röhricht von Sempach, mit dem Glockenturm im Hintergrund zur Erinnerung an den Sonntag; das alles ist selbstverständlich. Nein, unfehlbar reserviert er sich, schräg aus dem Augenwinkel, über und neben der aufgeschlagenen Zeitung, den Blick auf das schöne Mädchen, das telefoniert, die Wiesen betrachtet, liest, träumt, das Mobiltelefon kitzelt, sich schminkt, Tagebuch schreibt, kaut, die Tage zählt, sich eigensinnig die Haarspitzen abschneidet, anscheinend schielt es.
Gut, sage ich zu diesem ungeduldigen Mann: Du, der du die Zeit in der Hand hast, der du dich so genau auskennst, dass du beinahe vor mir am Ziel bist, und dann den Zug von dir abstreifst, wie man sein Jackett ablegt, gut, dass du im Ausschnitt über der Zeitung den langsamen Rhythmus eines Mädchens wahrnimmst, zwischen einem bedruckten Blitz und dem nächsten, in einer Andeutung ohne Überschrift die glatten Zeiten einer Julia erreichst, nennen wir sie so; ruhig gleiten ihre Gedanken über den See, wie die seidigen Haare einzeln durch ihre Finger, über den verzauberten Augen.
Seidenweich fügen sich dabei für sie jedes Ja, jedes Nein aneinander, die sie in ihrem Leben schon gesagt, schon erobert hat, seit sie sich erinnern kann. Manche davon kassiert sie, als löschte sie sie am Computer, delete, andere speichert sie und ordnet sie neu ein, mit politischem Instinkt, ohne Kamm, rechts oder links vom Scheitel; schon will sie sie mit dem Gummiband hinten zusammenbinden, da besinnt sie sich eines Besseren, sie schüttelt sich, wirft das Gewicht nach vorn, zerzaust alles vor den Augen und beginnt von vorne, schielender denn je.
Für sie, für die Julias, würde ich die Fahrt verlangsamen, ich täte das Unmögliche, führe endlos rund um den See. Leicht würde ich dahingleiten, zusammen mit den Schwänen, die paarweise auf dem Wasser hoch erhobenen Hauptes die Mücken zählen, ohne Julia von ihrer privaten Berechnung abzulenken. Die Minuten denken daran, sich zu verdoppeln, gespiegelt auf der Oberfläche: das Weiss dem Weiss treu, die 2 der 2 treu, so dass man nicht sicher ist, was dann wirklich stirbt, die Zahl oder ihre Spiegelung. Aber nichts da, kaum habe ich mir eine harmlose Abschweifung ausgemalt, höre ich schon, wie mich der unausbleibliche, erklärte Feind verflucht: dickbäuchig, aber jugendlich in der Kleidung, Sonnenbrille und Mütze mit Schirm nach hinten, als sässe er am Steuer eines Rennwagens. Auch die Schlüssel knallt er mir auf die Ablage, Schlüssel und Zigaretten: damit mir nur ganz klar wird, dass der Zug nichts ist für ihn.
«Hätte ich das Auto genommen, wäre ich jetzt schon in Fanta», gibt er mir zu verstehen.
Superpünktlich fahren wir durch Scienza: keine Verspätung angekündigt, milder Winter, null Reklamationen. Nur er: Der fingierte Jugendliche protestiert, misst die Zeit im Negativen: Wo wir nicht sind, wie spät es nicht ist.
«Nicht einmal in Finte wärst du.»
Er nimmt die Mütze ab, setzt sie wieder auf; steckt die Schlüssel wieder in die Tasche; sucht Schnee, wo keiner ist.
«Versteht ihr, wie langweilig Zugfahren ist.»
Rundherum findet er keine Zustimmung. Die meisten Leute schlafen, zu zweit, zu dritt, zu Telefonmusik; zwei Kinder lachen laut mit vollem Mund.
«In einer halben Stunde wäre ich da.»
Er schaut auf die Uhr, fügt hinzu, zieht ab; sein Knie wippt ungeduldig, das eine, das andere.
Würde er doch erkennen, mit wie viel Geschick, mit wie viel Elan ich mich in die Kurven lege, gerade schräg genug, um den Zug voranzubringen, ohne den Schwung zu verlieren, um schon Tunnels, Weichen, Stationsvorsteher vorauszusehen, die mir freie Fahrt geben, und meine Passagiere zufriedenzustellen. Ihn inbegriffen.
«Fanta», spuckt er ins Mobiltelefon.
«Finte», erwidere ich, im Vorsprung.
Auf der Autobahn stehen die Autos im Stau.
Finta, hier Bahnhof Finta: Der Lautsprecher erklingt im Ticken der Uhr; er wiederholt die Ansage auf Deutsch, mit grossem Erfolg: Eine Frau steigt ein, ganz Überschwang, die Arme voller knospender Kamelien, Stechpalme und Calycanthus, ein Sonnentransport. Niemand hilft ihr, doch lächeln die Blumen in ihrem Arm, dem Garten treu; Verstimmtheit kennen sie nicht, der Hecke eingedenk werden sie die Möglichkeit haben, auf der Reise ihre Reifezeit zu vollenden, im Zug aufzublühen, als wäre der März schon fortgeschritten, als brächte mir schon der Osterverkehr in voller Fahrt den Fahrplan des ganzen Jahres durcheinander.
Wäre ich an jenem Montag vor dem Bahnhof von Bern tatsächlich in der anderen Welt gelandet, wem hätte ich dann recht gegeben?
Ihm, der mir zuruft: «Achtung», und mich im letzten Augenblick mit dem Arm und der Tasche warnt, mich nicht vom Trottoir vorzubeugen?
Ihr, die sofort gegen ihren Mann wettert, gegen die Ungehörigkeit, auf der Strasse eine Fremde anzusprechen? Laut keift sie, überschreit die Strassenbahn und die Bauarbeiten, die laufenden Pressluftbohrer; wütend beschimpft sie ihren Mann, er solle sich nicht in das Schicksal Dritter einmischen, das meine, ohne überhaupt zu wissen, wer ich eigentlich sei; was zum Teufel ihm einfalle, mitten im Verkehr eine Unbekannte anzuherrschen: noch dazu eine erwachsene und verantwortliche, selbständige Person ohne Gepäck – von mir, die eben aus dem Zug gestiegen ist, reden sie –, meiner Wege solle man mich gehen lassen in meinem Alter, Versicherung obligatorisch, unter die Strassenbahn solle man mich laufen lassen, wenn ich die Verkehrsregeln nicht kenne. Er solle lieber die volle Tasche nicht kippen, das Mittagessen für morgen stehe in der Tasche auf dem Spiel, Fisch, Eier und alles Übrige, um Gottes willen, die Eier.
Die Ampel bleibt noch einen Augenblick rot, lange genug, damit mir bewusst wird, welcher Gefahr ich entronnen bin: der plötzlich in der Kurve diesseits der Baustellenabsperrungen aufgetauchten Strassenbahn, genau in dem Moment, in dem ich mich, über den Trottoir vorgebeugt, um die für Fussgänger gesperrten Übergänge zu erwägen, blitzschnell wieder aufgerichtet haben muss: in extremis gewarnt von jenem gebieterischen «Achtung».
Danke, sage ich nun, indem ich mich umwende und das zu der Stimme gehörige Gesicht ausmache: Ich lebe noch, sehen Sie, bin gerettet.
Und da bei der Predigt neben mir kein Ende abzusehen ist, wiederhole ich recht laut, um die andere Stimme zu übertönen, an den Mann gewandt mein überzeugtes Dankeschön. Der hält die Augen einfach fest auf die Ampel gerichtet, stumm und aufmerksam, um den Signalen auf der Strasse zuvorzukommen; ohne auf seine Frau oder auch mich achten zu müssen, hält der Herr die Tasche mit den Einkäufen fest in der Hand, Eier und Gewissen unversehrt.
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