«Ja, sicher, ich bin Vater eines Babys», antwortet der Kellner, während er mir das zweite Wasser einschenkt; doch jemand, ein Mädchen mit Rucksack, stösst gegen das Tablett, sorry, und er giesst fast alles über den Tisch, den Helm und die Zeitung.
Sie bringen mir ein drittes San Pellegrino und einen frischen Espresso, und als ich bezahlen will, weil ich noch einkaufen muss, sagt der Kellner zu mir, nein, es sei alles schon beglichen und bezahlt.
Mir fehlt die Zeit, mich mit Nachforschungen und Förmlichkeiten aufzuhalten, unwillkürlich wende ich mich an den Helm: Drei grosse San-Pellegrino-Tränen glitzern auf seiner Rundung, schimmern blau und lebendig in der Sonne, drei vollkommene Perlen, und ich danke ihm von Herzen für alles, für seine Höflichkeit, seinen azurblauen Charme, den Espresso samt Wasser; «falls er die Zeitung brauchen sollte …», ich schiebe ihm die Seiten unters Hirn, «trocknen tun sie im Nu», versichere ich ihm.
So mache ich mich geschwind auf den Weg, kehre den Segeln den Rücken, als wäre ich schon ein sausendes Auto oder Motorrad, radarbespitzelt rasend, sofort untergetaucht im frechen Lärm des Verkehrs.
Souvenir
(für die zwei Esskastanien in Aarau)
Wunderbar sind diese zwei nicht und auch nicht sonderlich in Form: Aber sie sind Zeugen des Tessins, sind Edelkastanien wie im Dorf meiner Kindheit, hinter Giornico gibt es ganze Wälder davon, und viel schönere.
Zu den Wäldern dort bringen mich diese zwei hinter dem Lattenzaun des Gartens zurück: Ich verlasse das Haus, noch ist kein Gedanke daran, nicht der Schatten einer Edelkastanie; auf dem Fahrrad biege ich in die Hohlgasse ein, fahre an den Gärten vorbei hinunter in die Stadt: nein, hinunter ins Tessin.
Denn im Nu auf der Hälfte der Hohlgasse, rechts die zwei zwischen anderen Bäumen, plötzlich zum Appell erschienen, festlich grün oder rostrot oder im winterlichen Garten schwarz und kahl, sagen sie ciao zu mir wie im Tessin.
Und schon habe ich auf meinem schnellen Rad durch den unvermittelten Gruss der zwei Edelkastanien eine ganze, lebendige Portion Vergangenheit zurückgewonnen, einen sicheren Vorrat an Mehl. Hatten sich die damaligen Leventiner bei der Schlacht in Giornico, der Battaglia dei Sassi Grossi, nicht ihre Portion Mehl gesichert, Kastanienmehl zum Überleben? 1478.
Echte Früchte tragen auch diese in der Hohlgasse, nach dem Feuerwerk ihrer langen Blütenkerzen bekommen sie Kastanien. Im Herbst wissen das die Kinder aus dem Viertel: Auf dem Weg von der Schule nach Hause oder zum italienischen Doposcuola halten sie an, um ein paar zu erbeuten. Aber auch an Ferientagen, bei Regen, bei Nebel bin ich welchen begegnet, die ihre Trottinette an den Lattenzaun lehnen und gebückt wie kleine Alte auf dem Trottoir mit erfahrenen Stiefeln die stachelige Schale zerdrücken, zerquetschen, zerstampfen, damit unter hellem Gelächter eine, zwei, drei Kastanien mit glänzend braunen Augen herausspringen.
Wenn es regnet und ich zu Fuss vorbeilaufe, kommt es vor, dass ein vorsichtiges Kind seine Arbeit unterbricht: Es hebt den Kopf und grüsst mich, um sicherzugehen, dass nicht ausgerechnet ich die Besitzerin der Früchte bin. Da ich nicht in den Garten abbiege, sondern weitergehe, wechseln wir einen raschen, verständnisinnigen Blick, Komplizen bei einer gemeinsamen, privaten Errungenschaft: Auch heute haben wir drei Kastanien der Sassi Grossi gewonnen, die wir sofort für immer mitnehmen, das Kind auf dem Trottinett, ich als Souvenir.
Er wurde regulär pensioniert, der Versicherungsagent der Stadt in der Deutschschweiz, in die ich vor Jahrzehnten übersiedelt bin. Manchmal treffe ich ihn auf dem Hundespaziergang am Fluss, in Trainer, Mütze oder Béret, und ich frage mich, ob er mich bei seinem anstrengenden Lauf erkennt oder nicht. Die Andeutung eines Grusses höre ich ihn jedes Mal hervorkeuchen, ein unvermeidlicher Anfang, der vielleicht ausser meiner Hörweite seinen Abschluss findet, und ich möchte wetten, dass dieser pünktlich bei jeder Begegnung hervorgekeuchte Ansatz, nicht das alte Folgendes ist, mit dem er grüsste, als er noch berufstätig war.
Folgendes erklärte er bestimmt am Telefon, Folgendes anstelle von Namen und Guten Tag, Folgendes – machen wir eine Bestandesaufnahme –, um dann die Absätze der Versicherungspolice Punkt für Punkt zusammenzufassen.
Daheim nannten wir ihn den Folgendes: Herr Folgendes hat angerufen, richteten sie mir aus, wenn ich heimkam, und der Tag hielt kurz inne, erstarrte schauernd in der Gewissensprüfung, die Folgendes auferlegte, in den Paragraphen, den Zahlen zu den Risiken und Unglücksfällen, in die wir früher oder später alle hineinliefen, ich gestern am Fluss, du heute auf dem Platz.
Wenn Herr Folgendes wüsste, dass in der andern Stadt am See, wo ich geboren bin, in der Stadt im Tessin, wohin ich in mehr oder weniger langen Abständen zurückkehre und mich schon auf der Strasse als Einheimische fühle, schon wenn ich ein Ciao aufschnappe, wenn mein Folgendes, im Wettlauf mit dem Hund, wüsste, dass ein Doppelgänger, ein Kollege oder Komplize auch dort unten nicht aufhört, immerzu Bestandesaufnahmen zu machen in den Strassen des Zentrums, zuhanden eines jeden von uns, dem er auf Schritt und Tritt folgt, ohne Hund, in Mantel und Schal oder dunklem Anzug, unermüdlich, Herr auch über den See, die Seepromenade und Paradiso; niemals in Eile, aber auch nicht müssig, eine flache Mappe unter dem Arm oder die Zeitung oder auch ein Brot. Grossgewachsen, mit herausgedrückter Brust und vorspringendem Bauch, den Kopf immer gerade, damit die Brille nicht verrutscht: Man könnte meinen, er sehe nur auf grosse Distanz, nur sehr weit am Horizont, Folgendes, Folgendes, jenseits der Ampeln, von Campione und der Grenze; dabei kommt er, kaum gehe ich an ihm vorbei, eben vom Gotthard heruntergekommen, schnell meinem Gruss zuvor, schon verabschiedet er mich mit zwei Wörtern, mit Blick auf meine Abwesenheit, gar nicht überrascht von meiner Gegenwart: Buona continuazione wünscht er mir unvermittelt, ohne stehen zu bleiben, ohne Gruss und Einleitungsfloskeln, buona continuazione, wie er’s meinem Vater und meiner Mutter wünschte, als sie noch am Leben waren
Buona continuazione wiederholt er prompt, als er mir zwei Stunden später über den Weg läuft oder in aller Ruhe zwei Jahre später, und zählt mir so schon jetzt und jedes Mal endgültig, meine nächste Rückkehr ab, meine nächste Abfahrt, die sich eines Tages als die endgültige herausstellen könnte.
Im Lautsprecher wird meine Ankunft angekündigt, und schon komme ich; die Abfahrt wird angekündigt, und schon fahre ich wieder ab. Ein Zug bin ich, ein Personenzug: einer von vielen, effizient und pünktlich, im dritten Jahrtausend.
Im Dienst der Öffentlichkeit fahre ich auf Schienen kreuz und quer durch die Welt, CH ist meine Welt: mit irdischer Gewissenhaftigkeit, in amtlichem Auftrag; mit Decrescendo und Crescendo, kreischenden Bremsen, ratternden Rädern, wechselnden Menschen, die aus- und einsteigen; dann los, mit Höchstgeschwindigkeit unter jedem Himmel die tausend Schicksale zu befördern, die in einem einzigen vereint sind: meinem. Für eine Wegstrecke, für eine Portion Leben, registriert in Stunden, Minuten und Sekunden, verkörpere ich das Los meiner Passagiere: Ich nehme sie auf und übernehme die Verantwortung, die Sache ist nicht ohne, und das wissen sie. Man braucht nur die Signora anzusehen, die in Wagen 3 eingestiegen ist; kaum hat sie sich ans Fenster gesetzt, noch nicht einmal den Mantel ausgezogen, nicht einmal die literarischen Zitate überflogen («Moi, le mauvais poète qui ne voulait aller nulle part, je pouvais aller partout.» Blaise Cendrars) oder das Gepäck der anderen beachtet, wendet sie sich in Gedanken schon den letzten Dingen zu, die plötzlich drohen, endgültig, keinen Blick wirft sie mehr auf den winkenden Enkel noch auf die Uhr am Bahnhof, in Olten: Schon formuliert sie in Gedanken ihr Gebet, gnädig sei ihr die Stunde, vielleicht die letzte, ihr wie jedem.
Читать дальше