Unrettbar, diese Menschheit.
Die farbigen Bilder von Leopard, Papagei, Orang Utan und Wasserbüffel lockten Wild schließlich in die Ménagerie. Und das Schweigen der Tiere. Und natürlich auch: die Mitteilung, der Tiergarten im Jardin des Plantes sei der zweitälteste der Welt, 1794 begründet.
Ein Produkt der Revolution offenbar. Und die Kehrseite ihrer Grausamkeit. Der Tiergarten verdankte seine Existenz nämlich der Weichherzigkeit der damaligen Verantwortlichen des Jardin, der als Jardin royal des plantes médicinales schon seit 1635 bestanden hatte.
Und nun, 18. und 19. Jahrhundert in Frankreich; die Luft schwirrte von Neugier und Erkenntnissen; mit Daubenton und Thouet war Frankreich führend in Zoologie und Botanik, mit den Forschungsreisen von Tournefort, Adanson, Bougainville, La Pérouse, Entrecasteaux und der Bonapartischen Expedition nach Ägypten kamen neue Bilder aus der Welt hinter dem europäischen Horizont. Aufklärung, im weitesten Sinn. War es ihr, einem neuen Verständnis für die belebte Welt um den Menschen zu verdanken, dass die Tiere hier in dieser frühen Ménagerie überlebt hatten? Dass man sie lieber lebendig als tot sah?
Die zur Schlachtung oder Ausstopfung bestimmten Tiere, die aus Beständen privater Schausteller kamen und von den Revolutionswächtern den Wissenschaftlern zur Erforschung überstellt worden waren? Später, las Wild, seien auch die Tiere aus der ehemaligen königlichen Menagerie in Versailles in den demokratisierten Tiergarten gekommen, und noch später schließlich viele Tiere aus den Kolonien als Geschenke von Forschungsreisenden, Kolonialbeamten und Privatleuten.
Vorübergehend machte die Ménagerie mit einer Giraffe von sich reden. Zarafa ihr Name, sie war am 30. Juni 1827 in den Zoo gekommen und hatte noch achtzehn Jahre lang dort gelebt.
«Begründet im Jahr 1794, beherbergte die Menagerie einst Tiere aller Größen», sagte das schmale Büchlein in Wilds Hand, sein Itinéraire, «Elefanten, Giraffen, Bären, Löwen in den Gebäuden, die heute als historische Bauten geschützt sind. Besorgt um das Wohlergehen ihrer Schützlinge, behütet der Tierpark heute vor allem kleinere Tiere und solche, die vom Aussterben bedroht sind.»
Tatsächlich konnte von Elefanten und Bären, von Giraffen und anderem Großwild keine Rede mehr sein. In den vielleicht historischen, gewiss aber heruntergekommenen Käfigen, Gehegen, Pavillons, Volieren standen, verloren und als ob sie frieren würden, vor allem Ziegen, Schafe, Steinböcke, die Schraubenziege, das Blauschaf, das Steppenwildschaf, der westkaukasische Steinbock. Ein riesiger alter Esel kaute an einer Futterkrippe, da standen Wildschweine exotischer Art. Dik-Dik, Känguru und Emu, Nandu und Lama, Gazellen und das Gau, eine große Büffelart, kleinere Büffel und jede Menge Vögel, eingesperrte und frei fliegende, Enten, Kraniche, zwischen denen man im Käfig spazieren konnte, manche Nachtvögel wie Eule und Uhu, von denen nicht eine Feder zu sehen war, und in einer dunklen Voliere die unvermeidlichen Wellensittiche, deren grelles Zwitschern die Leblosigkeit dieses zweitältesten Tiergartens der Welt akzentuierte. Abandonné, dem Verfall überlassen, dem Hinsinken. Du schaust in das Auge des Bisons, und dein Blick fällt in einen Abgrund.
Alle Tierparks, die Wild kannte, hatten ihre eigene Trauer. In dieser Ménagerie war von der Trauer nur die Trostlosigkeit übrig geblieben. Das Büchlein in Wilds Hand nannte den Grund, eher beiläufig: der Schwerpunkt des Zoos war längst umgezogen, déménagé, verlegt worden nach Vincennes, wo die Tiere in einem großzügigeren Umfeld leben dürfen. Das Tier ist nun kein Spektakel mehr, das man ausstellt, es ist nun Ambassadeur de la biodiversité. Und es lebt «in einer natürlichen Umwelt, in der sein Wohlergehen an erster Stelle steht». «Ainsi», schrieb Wilds Guide, «le zoo s’inscrit dans un dispositif de sensibilisation à la conservation de la nature.»
Endlich fand er zu den Toiletten, gleich hinter dem Käfig mit den Sittichen, untergebracht in einem kleinen, am Giebel eingebrochenen Gebäude. Die Frauenseite war mit einem Verschlag versperrt. Wild, es eilte langsam, traf in den Pissoirs der Männerabteilung eine Mutter mit zwei kleinen Mädchen an, die sich vor den Urinoirs, die viel zu hoch waren, mit den Kindern mühte.
Wild zog sich zurück, schlug den Mantelkragen höher, drehte eine Runde, kam wieder, als die Mutter mit ihrem Kinderwagen hinter Buchsbaum verschwand.
Auf einem der nierenförmig geschwungenen Wege kam er zum Raubtierhaus oder vielmehr zu den leeren Käfigen an dessen Außenseite. In einem der Käfige, Eisenbalustrade, Metallstäbe, zusätzliches Drahtgitter, lag hoch auf seinen grünmoosigen Kunstfelsen ein Schneeleopard. Fast hätte Wild ihn übersehen, während der mit einem Auge bewegungslos auf ihn herunterschaute.
Der Eingang zum Raubtierhaus befand sich auf der Rückseite des Gebäudes aus den Dreißigerjahren, der Architekt war auf einer Tafel verewigt, «René Berger, 1935–1937», wie an vielen Häusern der Name des Architekten an der Fassade steht, signierte Architektur. Ein paar Stufen führten ins Innere. Eine gelb erleuchtete Arena tat sich auf, ein großer Raum. Auf einer ausladenden Bank in der Mitte fütterte vor den Käfigen eine Mutter ihr Kind.
Es gab keine Besucher vor den zweigeschossigen Boxen, in denen Stroh lag, die Käfige, bis auf einen einzigen, waren leer. In dem Abteil, das bewohnt war, lag ein Jaguar über einen Baumstrunk ausgestreckt. Sein langer Schwanz hing leblos herab, und auf der Flanke zeigte er eine große kahle Stelle. Er sei jüngst operiert worden, stand auf einem Schild, vielleicht schlief das Tier immer noch eine gewaltige Narkose aus.
Es war warm und ruhig in dem großen, leeren Raum. Wild staunte in die leeren Käfige. Die Wärme, der schöne Raum, seine Großzügigkeit, das gäbe einen schönen Ort zum Wohnen ab, Alterswohnungen vielleicht? Der einsame Jaguar hätte gewiss nichts einzuwenden gegen ein wenig Gesellschaft, und wenn diese netten französischen Familien mit ihren kleinen verwöhnten Kindern ihm am Sonntag einen Besuch abstatteten, konnte es nichts schaden, wenn sie sich dabei auch ein wenig die Alten besahen.
Vor dem Kassenhäuschen der Ménagerie heulten die Turbobläser der Gärtner, die ein bisschen Laub unter den Platanen zusammentrieben, und das Schreien der Sägen, mit denen sie daran waren, die Platanen der Allee, dieser zu einer Armee angetretenen Baumreihe, zu trimmen und ihnen einen militärischen Schnitt zu geben. Schnurgerade folgte der Blick der Baumreihe bis zu ihrem Ende, nach den geometrischen Rabatten und symmetrisch aufragenden Taxus-Türmen ein weiteres Exempel der klassischen französischen Gartenkunst – und merkwürdig unpassend in einem Botanischen Garten, in dem einer das Wuchern freier Natur erwarten durfte. Die Zone, in der das Schneiden und Trimmen tobte, war durch rot-weiße Bänder abgesperrt. Ein Traktor mit aufgepflanztem Arm, gerecktem Ausleger, an dessen Ende fünf Sägeblätter rotierten, schob sich langsam an der Baumreihe entlang und fräste in den Kronen die Ästchen ab, mehrere Turbobläser wehten mit Gedröhn ein paar Reste zusammen, riesiger Aufwand, wenig Effekt.
Wo sind die Gärtner geblieben, fragte sich Wild, die Gärtner in der grünen Schürze oder dem blauen Overall mit dem Rechen in der Hand, wo sind sie, all die Straßenfeger und Hauswarte mit dem Reisbesen, wo bleibt das wunderbare Geräusch eines in der Stille Laub rechenden Menschen? Wo das Hin und Her einer langsam durch einen Ast dringenden Handsäge, wo das Schnappen der großen Heckenschere und wo das Bild jener an die Bäume gelehnten Leitern, auf denen geschickte Arbeiter hoch oben in den Kronen die Bäume fachmännisch beschneiden? «Achtung!» der Ruf, und der große Ast fällt krachend hernieder … Die Würde gut gemachter Arbeit hatte sich in Lärm aufgelöst, in das robotermäßige Hantieren gelb vermummter Männer, ineffizient, grob und unangemessen.
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