Standen am Tresen, tranken ein Bier.
Wild hätte niemals zugeben mögen, dass er erleichtert war. Aber jetzt hatte er Helen für sich.
Sie lachte. Die schwarze Mèche, die sie an ihrem Chignon hatte, verdoppelte sich in dem Mosaikspiegel hinter der Bar. Ihr Rock, schmal, lag an den Oberschenkeln an und endete knapp über den Knien.
Ihr erster Abend. Ein Elternabend.
Wild sah sie später immer wieder so vor sich, in den schönen Zeiten, und in den schwierigen auch. Die aufgesteckten Haare, der schwarze Stoffschmetterling. Das helle, in der Hüfte taillierte Jackett, darüber der Mantel, der dunkle Rock.
Eine Art Netzstrümpfe und schmale Schuhe mit einem schmalen Ristriemchen und hohen Absätzen.
Wild hatte Helen damals nicht wiedergesehen. Er fuhr am nächsten Tag zurück in die Schweiz.
Helen war telefonisch nicht mehr erreichbar gewesen. Er hätte sich ja nur irgendwie bedanken wollen, dachte Wild. Er wusste, das stimmte nicht.
Sie verschwand aus Paris, und sie verschwand auch aus den Briefen, die Bert an Wild schrieb.
Bert hatte noch nie eine solche Freundin gehabt. Wie hatte er das bloß gemacht?
Der Freund kam wenige Monate später bei einem Unfall ums Leben. In Paris. Er hatte sich den Arm gebrochen, als er mit seinem Rennfahrrad gestürzt war. Der Bruch heilte schlecht und musste noch einmal operiert werden. Bert, 24-jährig, starb an einer Embolie, durch ärztlichen Fehler.
Manchmal hat Wild das Gefühl, er lebt mit der Zeit, die Bert ihm überlassen hat. Das meiste davon mit Helen, das sowieso.
Das ist er ihr schuldig. Das ist er ihm schuldig. Das steht ihm zu.
Nun endlich steht er auf, Wild. Erhebt er sich. Die Amerikanerinnen sind längst verschwunden.
Addition! Er zahlt sein Perrier mit Zitronenschnitz, Glas, Löffelchen, Tablett, Papierserviette, zahlt den Weißwein, rafft die Zeitung, überquert den Platz.
Juni. Die Place de la Contrescarpe, liegt im hellen Sonnenlicht. Es ist warm geworden, elf Uhr morgens, die beste Stunde an einem solchen Junitag. Die Blätter der Judasbäume wedeln wie mit tausend Händchen. Zwei junge Männer in Jeans lehnen an dem Geländer, das die kleine Grüninsel umgibt. Sie schauen nicht auf, als Wild an ihnen vorbeigeht. Auf der Bank in der Grüninsel sitzt ein junges Paar, ins Gespräch vertieft. Der junge Mann hat seine Hand auf dem Knie des Mädchens.
Auf den runden, mit einem Messingreif gefassten Tischchen in dem andern großen Straßencafé, gegenüber, liegen schon die Speisekarten, MENU, und je zwei blaue gefaltete Papierservietten, darauf Messer und Gabel.
Wild schwenkt in die Rue Mouffetard, die sich hier gegen Monge zu senken beginnt. Alles ist neu, links und rechts, Supermarché, L’Oulala, La Contrescarpe, Vidéo Club, Aux Fromages, V.O. Boutik, Diwali, Au Piano Muet, Mouffetard Folies, La Maison des Tartes, Bowling.
Die jungen Männer tragen ihre Hemden über den Hosen. Die Mädchen haben kleine Rucksäcke auf dem Rücken, als ob sie Äffchen trügen, kleine Kosetierchen, in denen sich nicht viel mehr als ein Lippenstift befinden kann.
Dann die Nummer 73, der Durchgang zum Theater. Théâtre Mouffetard. Es ist noch da, sieht aber ganz anders aus.
Ein Schaukasten. Mitteilung: Le théâtre a cessé sa programmation.
Las Wild.
Nous vous remercions pour ces années passées à nos côtés.
Die Jahre, die Sie mit uns verbracht haben.
Die Jahre mit uns.
Terminée.
Die Jahre ohne Wiederkehr.
Amitiés à tous.
Und hopp. Und ade.
Wild kehrte wieder, kam öfter nach Paris. Er kam zurück an einen Schauplatz, wollte es noch einmal betreten, das Theater der Vergangenheit. Als gäbe es etwas zu entdecken, was er damals übersehen hatte. Was er versäumt hatte. Was nicht mehr nachzuholen war –
Um allein dort zu sein, wo Es gewesen war, um Es zu suchen, und, selbstverständlich, nicht wiederzufinden.
Die Reisen der Vergeblichkeit. Die er nicht lassen konnte.
Gibt es einen würdigeren Gegner als die Vergeblichkeit?
Wenigstens noch einmal hinsehen.
Man konnte unter dem kahlen Baum ein gefallenes Blatt umdrehen, das trocken dalag. Schön, die Maserung, wunderbar, darunter war keine Botschaft.
Man konnte in ein Schaufenster sehen, und die Dinge lagen, schön, als hätten sie mit nichts anderem zu tun als mit sich selber.
Man konnte vor einem geschlossenen Theater stehen, die alten Spielpläne lesen, und keine Neugier wurde geweckt. Strindberg, Tschechow, Ionesco, große Namen, verwehte Laute. Noch entließen sie einen schwachen Hauch, es war der von «vorbei». Man sah unter den Namen das stumme Papier, das Gilben.
Amitiés à tous.
Küsse, verweht, Umarmungen … Eine Ahnung noch vom Geruch einer Schulter, dieser Schulter. Die Schulter mit den Sommersprossen. Die Wärme von honigfarbener Haut, das Gedächtnis der eigenen Hand. Die Sommersprossen. Alles da, alles wieder einholbar im Netz des Erinnerns. Aber wo ist die Liebe? Sie selbst. In welchen Teil des Weltraums entwichen? Oder in welchem Weltinnenraum?
Es geht nichts verloren, heißt es. Und die Liebe? Riech vielleicht an einem alten, an den Falten angegilbten Linnen. Wenn du es aus dem Schrank nimmst und aufschlägst und daran riechst, wer weiß?
Wild war das kurze Stück zu Fuß gegangen, die Rue Cardinal Lemoine hinunter und hinüber zur Gare d’Austerlitz. Er hatte auf die Stahlbogen der Brücke geschaut, auf der die Metro, Linie 5, als Hochbahn über die Seine herüberkam, hatte zu der luftigen Haltestelle an der Gare d’Austerlitz hinauf gesehen, einer Station, wie Wild sie liebte. Man kam auf der andern Seite des Flusses irgendwo aus dem Boden, fuhr dann auf Augenhöhe mit den Fenstern der Menschenwohnungen durch einen Straßenzug, um unvermittelt über dem Fluss zu sein, Schnattern der Räder, Rasseln, Kreischen in der folgenden Kurve und sekundenkurze Aussicht auf den Fluss und die Stadt, das Blaugrau im Graublau, ein Glaubrau. Die hingebreitete, in die Tiefe gestaffelte Stadt, die Flussufer entlang Richtung Île Saint Louis und Notre-Dame, zwischen Quai de la Rapée und dem neuen Ufer.
Es gab eine Parissehnsucht, die Sehnsucht blieb, obwohl man doch schon da war.
Über den Boulevard de l’Hôpital nun die paar Schritte hinüber zum zaunbewehrten Eingang. Hohe Eisenstaketen mit vergoldeten Spitzen, zwischen zwei Pfeilern und an zwei plaudernden Beamten vorbei in den Jardin des Plantes, der sich wie eine höfisch-herrschaftliche Einladung vor Wild weitete. Das Portal durchschritt er das erste Mal.
Die beiden Platanenalleen links und rechts, das große Feld in der Mitte, mit Rechtecken gestaltet und sich in die Tiefe ziehend, wo der Blick auf das ferne, das riesige Rechteck abschließende Palais stieß, die plumpe, über die Jahrhunderte immer wieder umgebaute «Galerie de l’Évolution», ehemals «Cabinet du Roi», als der Jardin noch zu den königlichen Gärten gehörte.
Bevor Wild langsam und immer nur ein paar Schritte vorrückend die ganze Anlage in den Blick nehmen konnte, oder das, was er von dieser Stelle als ganze Anlage überhaupt erkennen konnte, fand er die großen Gewächshäuser ganz hinten auf der rechten Seite, das lang gestreckte Gebäude zur Linken, welches, wie Wild auf seinem Plan nachprüfen konnte, die Zoologie beherbergte, Skelette, mit denen man die Tierwelt in Klassen ordnete, und sah mit Behagen, wenn auch fröstelnd, über die in die Tiefe gestaffelten bepflanzten Beete, winterlich dürr und kahl, mit Sträuchern ohne Blätter, die mit kahlen Ästen hilflos in die Höhe fingerten. Dagegen die Akzente dunkler Zapfen von hohen, schmalen Taxusbäumen. Und dann wieder das sich flach, geometrisch, französisch oder ganz und gar unenglisch ordnende zentrale Wiesenfeld, blassgrün und in regelmäßigem Muster mit Blumenrabatten gerastert. Wunderbar, großzügig, streng; der große Atem im Körper der großen Stadt.
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