Ich drücke ihn eines Abends kurz nach unsrem Einzug ins Haus über der Stadt zum ersten Mal an mich. Ich stehe im holländisch rot und grau gefliesten Korridor, das Licht brennt rötlich, vor mir dreht sich die Treppe nach links ins Obergeschoss, rechter Hand steht der in die Wand eingebaute Spielzeugschrank offen. Vor Mitleid und Freude bin ich stumm. Er ist etwa anderthalbmal so gross wie meine Handspanne und hat irgendwo, von allen vergessen, herumgelegen, schwer krank. Die vier Tatzen fransen aus und sind leck, am Kopf und an den Beinen ist der Plüsch weggescheuert, ich taste über das arme rauhe Gewebe, die Spitze der langen Nase weist nach rechts, ein Geburtsfehler, die mit schwarzem Wollfaden gestickte Schnauze ist angerissen, die Nüstern hat er verloren, die meisten der in Schwarz angedeuteten Krallen sind ihm ausgefallen. Die schwarzen Pupillen der Knopfaugen aus Glas sind rot umrändert, er muss viel geweint haben, wie gut ich das verstehe, die Ohren sind rund und klein. Ein Jammergeschöpf, es fällt mir ins Herz, wo es genau hineinpasst. Ich renne zur Mutter, ihr den Fund zu zeigen, denn ich habe von diesem Spielbären unter den Sachen meiner Geschwister nichts gewusst. In den folgenden Tagen flickt sie die gröbsten Wunden, so dass keine Spreu herausrinnt. Den Hintertatzen werden rote Ledersohlen aufgenäht, die Vordertatzen mit rotem Stopfgarn verstätet.
Das Bärlein wird das einzige Kuscheltier meiner Kindheit. Ich esse, turne, spreche, schlafe mit ihm; es geht, steht, sitzt, ist krank und gesund mit mir, es streckt mir die Ärmchen entgegen, es dreht den Kopf nach mir. An Bärlein richte ich, sobald die schlimmsten Asthmaanfälle nachgelassen haben, in Hochdeutsch die Plaidoyers für meine Unschuld. (Wüsstʼ ich noch, worin die Anschuldigung bestanden hat!) Ihm erzähle ich vom Glück, die Schule los zu sein. Bärlein hört sich alles an, nickt, gibt Antwort in einer halblauten, zu einem Zirpen gepressten Kinderstimme, altklug und ebenfalls hochdeutsch.
Als mir im Kantonsspital Olten Dr. Rodel die Mandeln schneidet (ich bin acht oder neun) und ich am nächsten Tag, unfähig zu schlucken oder den Mund zu schliessen, nach Hause gebracht werde, bereitet das Bärlein mir, im Bett wartend, eine der schmerzend-schärfsten Freuden meiner Kindheit. Die Mutter hat ihm einen roten Mantel mit verschiedenfarbigen Längsstreifen gestrickt, den vier weisse Kugelknöpfe über dem Bäuchlein schliessen. Nun kann ich es ausziehen, einkleiden, schlafenlegen. Es bleibt ununterbrochen lieb, verändert seinen sorgenvollen Knopfaugen-Blick nie, ob ichʼs verküsse oder in einem Wutanfall weinend an die Wand des Krankenzimmers schleudere. Es erträgt Launen, Verzweiflungen, Glück und Ungeduld – ein Heiliger. Ich bin längst kein Kind mehr, doch das Bärlein darf nie weiter als eine Armeslänge von mir entfernt liegen, in die Kissen oder die Daunendecke gebettet, und ich komme mir lieblos vor, wenn ich am Morgen feststelle, dass ich auf ihm geschlafen habe. Es kennt jede Einzelheit meines Lebens, es ist Zeuge alles Bösen und Guten. Ich stehe in seiner Schuld noch heute.
→ Diminutivverlust→ Erinnerungsschwur→ Ersticken→ Krankheit und Macht→ Offside→ Nils Holgersson→ Totemtier
Das Kind begegnet jedem Kleidungsstück mit einem genauen unveränderlichen Gefühl: Liebe, Gleichgültigkeit, Verachtung. Es hat ein klares Bewusstsein seiner selbst, seine persönliche Ästhetik. Sinnlos, ihm weismachen zu wollen, jene vom Bruder geerbten Hosen aus braunem Wollstoff mit den engen in den Kniekehlen scheuernden Hosenbeinen seien genauso schön wie kurze dunkelblaue Manchesterhosen, vor allem aber wärmer und gesünder. Was bedeutet dem Kind Gesundheit? Es bringt sie mit aus dem Mutterleib. Was soll der Hinweis auf Blase und Nieren? Jeder Blick an seinem Körper hinunter bestätigt, dass die Hosen abscheulich aussehen.
Verlorne Liebesmüh, ihm lederne Hosenträger beliebt zu machen, weil ein eng geschnallter Gürtel auf den Magen drücke und Bauchweh verursache. Es sieht sich im Toilettenspiegel der Mutter und weiss mit sechs Jahren bereits: Ich sehe aus wie Herr Holderegger. Kaum sind die Eltern ausser Sicht, knüpft es die Hosenträger los, versteckt sie und sucht im Nachttisch des Bruders nach einem Gürtel.
Es gibt auch ästhetisch neutrale Kleidungsstücke. Ausgelatschte braune Halbschuhe: Wer im Quartier trägt schönere? Einige trampeln gar in Holzböden herum. Schuhe werden für das Kind gekauft, es hat sie abgetreten und liebgewonnen; ungern trennt es sich von ihnen. Dazu trägt es kurze Socken. Seine dunkelblaue, von der Mutter gestrickte Wollkappe empfindet es als Verschönerung seiner Person. Zwei Pompons baumeln ihm an Kordeln gleich grossen Pflaumen ums Gesicht.
Am glücklichsten ist das Kind im langärmligen, aus feiner weisser Wolle gestrickten Pullover mit Umlegekragen. Dünner als der braune oder der staubblaue Winterpulli aus Kratzwolle, steht er für Sonntag und Frühling und umschliesst eng die Handgelenke; der Kragen fasst den Hals schön rund ein, die Glasknöpfe sind Diamanten. Das Kind gefällt und liebt sich dann aus tiefstem einverstandenem Herzen. An Frühlingssonntagen trägt es zudem weisse gestrickte Strümpfe, die seine Würde nicht antasten. Es hakt sie in die Ösen am Gschtältli und prüft die Knöpfe des Hosenladens. Nun schlüpft es in die dunkelblauen Manchesterhosen und tritt sich so gegenüber, wie es sich sehen will: vom Himmel gestiegen und der Mutter und dem Vater ein Wohlgefallen. Es lacht, singt, entwischt in den Garten, kommt nach einer Weile wieder ins Haus gelaufen und erzählt. Die Eltern streicheln ihm übers Haar, nehmen es an der Hand und hören ihm geduldig zu.
→ Diminutivverlust→ Erwachen mit drei Jahren→ Freiheit des Kindes→ Der Jüngste→ Schuhe kaufen→ Zügelmann Holderegger, Dienstkollege
Als Jüngster trage ich mehr aus als an, übernehme mehr, als ich gekauft bekomme; die Anspruchslosigkeit in der Garderobe ist mir geblieben. Das Velööli, ein Dreirad, nehme ich in Gebrauch, als es bereits bös vernutzt ist. Ich fahre es bis auf den Schrottplatz, übe vormittagelang auf der Veranda. Die Hartgummireifen fallen aus den Felgen. Sie werden nicht ersetzt, es gibt während des Krieges kaum derartigen Luxus, auch knirschen und kratzen die Räder fortan metallisch auf dem Beton, und das tönt mir wie die Eisenbahn. Das Dreirad wird zur Lokomotive meines Zugs. Die Glocke wird umfunktioniert: Ich schraube den metallenen Deckel los, klemme trockenen Riesenporling vom kränkelnden Edelkirschbaum ins Läutwerk und drehe den Deckel erneut fest. Mit der Lupe des Vaters entfache ich das Feuer. Schwämme glimmen mit graugelblichem Rauch und beizendem Schmorgeruch und veraschen nur langsam.
Der Zug ist unter Dampf; ich lege mich bäuchlings auf den hölzernen Sitz, ergreife die Pedale mit den Händen und verkehre knirschend und gierend zwischen dem Westbahnhof vor der Küchentür und der Station am Ostende der Südveranda. Die Glocke tönt erstickt und dumpf, etwas ist ihr in der Kehle steckengeblieben – kein Wunder, wir kommen aus einer rauchbraunen Ferne. Passagiere mit Überseekoffern steigen aus, auf den Perrons wartet ungeduldig die Menge der Urlaubs- und Geschäftsreisenden. Stolze Destinationen schwirren mir im Kopf: Ohne Halt bis St. Petersburg und Paris! An andern Tagen steigen nur Bauern, Arbeiter und Handlungsreisende zu, der Zug hält in Schafhausen und Walkringen. In Oberdiessbach wird er aufs Abstellgleis geschoben. Was würden Grosseltern, Tanten und Onkel von mir denken, wenn ich an ihnen vorüberdonnerte. Ich verbeuge mich höflich.
→ Eiffelturm und Laternenfisch→ Eisenbahn→ Fahrt in die Nacht→ Kontinente→ Waldbahn
Der Riese unter den Murmeln heisst Ajax, eine Glaskugel von der Grösse eines Holzapfels, in ihrem Innern schlingen sich zwei gelbgrüne Bänder von Pol zu Pol um eine rote Ader herum. Ajax ist matt, plump, ich mag ihn nicht. Neben weiteren, bedeutend kleineren Glasmurmeln – Diomedes, Menelaos, Memnon – gibt es Klicker aus glasiertem Ton, anspruchslos braun, mattblau oder versilbert, Thersites und seine Gesellen.
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